Pubertät – Tabus – Aufwachsen. So beschreibt eines der Cast-Mitglieder gegenüber dem Campusradio uniCross die Neuinszenierung von Wedekinds Klassiker Frühlings Erwachen. Monatelang konnte aufgrund der aktuellen Lage nur online geprobt werden, lange war nicht klar, ob es das Stück überhaupt jemals auf die Bühne schaffen kann. Jetzt findet es vom 29. Juli bis 01. August via interaktivem Live-Stream statt, heißt: das Publikum kann hier zu vielen Teilen mitbestimmen, wie die Handlung des Stücks verläuft.

Frank Wedekinds Klassiker von 1891 kennen viele. Im zweiten Coronajahr wurde nun eine Neuinszenierung des Stücks vom Uni-Theater Freiburg auf die Bühne gebracht, genauer gesagt ins Hans-Bunte-Areal, einem Pandemie-bedingt leerstehenden Nachtclub in Freiburg. Nachtclub ist ein gutes Stichwort, denn das Gefühl in einem solchen gelandet zu sein – nur ohne laute Musik, Menschengetümmel und flackernde Discobeleuchtung – stellt sich bereits bei der Anfangsszene ein.

Wie Effie Trinket aus den Hunger Games

Alles ist dunkel. Die Böden und Wände sind schwarz. Nur Schauspielerin Julia Haase, die an einem Tisch sitzt und dem Publikum gleich die Aufgabe geben wird, sich via Online-Abstimmung zu entscheiden, ob sie einen Schokokuchen, einen Pfirsich oder einen Obstbrand verzehren soll, ist perfekt ausgeleuchtet.

Eine Art Anmoderation ist das, was Julia Haase jetzt übernimmt. Sie erklärt dem Publikum, wie genau das mit dem interaktiven Theater funktionieren soll und führt Beispiel-Abstimmungen durch. All das wirkt allerdings showhaft und gekünstelt, etwa wie eine Game- oder Castingshow. Auch Assoziationen mit Effie Trinket aus den Hunger Games kommen auf. Zumal sich die Protagonist*innen hinter ihr aufreihen wie Tribute. 

Tatsächlich soll Julia hier jedoch weder eine Moderatorin, noch einen Gameshowhost verkörpern, sondern eine Form des Knecht Ruprechts, wie aus dem Abspann hervorgeht. Knecht Ruprecht – bekannt als ständiger Begleiter des Nikolaus’ – steht in den Überlieferungen für das Böse in der Welt, was retrospektiv auf das Stück bezogen durchaus Sinn macht. Von der Rolle geht eine gewisse Skrupellosigkeit aus, indem sie beispielsweise Entscheidungen, die das Publikum trifft, einfach ignoriert. Dennoch war das gesamte Stück hindurch nicht klar, dass es sich bei Julias Rolle um die eines Knecht Ruprechts handelt.

Entfremdete Objekte im schwarzen Raum

Bereits vorher wurde angekündigt, dass nicht einfach die Bühne abgefilmt werden solle, sondern dass es sich bei dieser Live-Übertragung um einen Mix aus Film und Theater handle. Tatsächlich waren die Kameraführung und -einstellungen in vielen Fällen sehr interessant gewählt: So konnte das Publikum sich etwa an entfremdeten Objekten im schwarzen Raum als Zwischenbild zur nächsten Szene erfreuen oder aber auch am Kameraschwenk als Mittel der Wiederholung.

Obwohl per Publikumsabstimmung wiederholt dafür gestimmt wurde, dass Melchior Wendla nicht schlägt, entschied sich die Regie dagegen, dieser Empfehlung zu folgen. Melchior prügelt also auf Wendla ein und durch die Position der Kamera hat der*die Zuschauende selbst den Eindruck, er*sie bekäme die Schläge ab. Das ist sicher nichts für schwache Nerven oder für jemanden, der*die ein Trauma in der Hinsicht erlebt hat. Das Ensemble weist aber an vielen Stellen auf den problematischen Inhalt und die möglicherweise triggernden Bilder hin, spricht Content-Warnungen aus und verweist auf Hilfsangebote für Betroffene.

Verschenkte Chancen

Daher ist es sehr schade, dass sich gerade in den Szenen von Wendlas Vergewaltigung und Moritz’ Selbstmord nicht mehr Zeit gelassen wurde und dass hier nicht eventuell auch mit POV gearbeitet wurde. Keine Frage: Diese Thematiken sind unangenehm, ja. Sie sind auch potentiell triggernd. Doch war es nicht einst Wedekinds Intention über diese Tabus in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu sprechen, mit roten Pfeilen auf sie zu deuten und dabei auszurufen: „Wie kann so etwas sein“?

Und hat sich nicht auch das Freiburger Uni-Theater zum Ziel gesetzt, diese Tabus, die zwar nicht mehr so massiv in der Gesellschaft verankert sind wie noch vor über 100 Jahren, aber doch immer noch existieren, weiter zu enttabuisieren? Wenn ja, wurden einige Chancen verschenkt, diesen schwierigen Themen genügend Bühne zu geben und das Publikum an den – vielleicht sogar tatsächlich empfundenen – Emotionen der Schauspieler*innen teilhaben zu lassen.

Vielleicht war das auch ein Produkt der um knapp eine Woche verschobenen Premiere. Diese sollte ursprünglich am 23. August stattfinden. Allerdings kamen bei den Proben wohl Reaktionen auf die im Stück behandelten Themen auf, die erstmal verarbeitet werden mussten. Möglicherweise wurden in dieser Woche ja Änderungen vorgenommen, die dem Stück nicht unbedingt gut tun.

Trotzdem soll an dieser Stelle einmal die großartige schauspielerische Leistung einiger Darsteller*innen erwähnt sein. Besonders Michelle Thielsch (Wendla Bergmann), Paul Reichenbacher (Moritz Stiefel) und Emma Wagener (Frau Gabor) konnten in ihren Rollen überzeugen.

Kurzum: Super schauspielerische Leistung von einigen, die gleichzeitig aber auch im Kontrast zu den teilweise störenden Versprechern anderer, in Kombination mit keiner guten Artikulation plus dialektalem Einschlag, steht. Nach den Ankündigungen und Content-Warnungen hätte man krassere und konkretere Bilder erwartet. Ich war nach der Vorstellung nur müde und nicht wirklich bewegt.