Im Klang der Berliner Philharmoniker liegt Berührung – auch wenn sie sich gern modernen Kompositionen hingeben. So auch im neuesten Konzert unter Paavo Järvi, obwohl das Programm gefährlich an der Alltäglichkeit vorbei schrammte.
Alt – Neu – Alt. Üblicherweise punkten Konzertprogramme der Philharmonie auf diese Weise bei den Ohren der Hörer*innen. Zuerst ein schwunghafter Kalauer, um die Gemüter zu erhellen. Dann eine Prise moderne, meist atonale Klassik für den Kopf – aber auf keinen Fall zu viel. Und zum Abschluss altmodische Pathetik, Mahler, Schubert, vielleicht Beethoven. So bleiben die Abonnements auf dem üblichen Niveau.
Diesem „Erfolgsmodell“ wären die Berliner Philharmoniker bei ihrem Konzert am 27. Mai um ein Haar auch gefolgt. Sibelius´ Siebte Sinfonie beschwor mit gewohnt spätromantischen Klängen die weiten, bewaldeten Ebenen Finnlands hervor. Die Signifikanz der Sinfonie ist kaum zu unterschätzen: Sie ist die letzte Sinfonie des finnischen Nationalkomponisten, gefolgt von einer mehrjährigen Schaffenspause. Der estnische Dirigent Järvi forderte die Philharmoniker*innen – kein Wunder, gehört Sibelius doch in Tallinn zum Standardrepertoire. Es mochte daran liegen, ein beinahe ausgebuchtes Haus zu genießen, dass die Philharmoniker*innen in ihrer Liebe zum runden Klang der Streicher fast eine reißerische Interpretation zutage förderten. Zugleich schwebte aber immer die tiefe Verbindung des Komponisten und des Orchesters im Hintergrund: Sibelius soll selbst gesagt haben, dass er die Berliner Philharmoniker bereits seinerzeit für das optimale Orchester halte.
Der selbst anwesende Komponist Erik-Sven Tüür setzte an dem Abend einen deutlichen Akzent mit seinem Flötenkonzert. Er schuf das Konzert als eine Hommage an den langjährigen Soloflötisten des Orchesters, Emmanuel Pahud. Als virtuoser Solist, der sich schon auf Soloalben als „Flötenkönig“ betiteln ließ, ließ Pahud dann wenig unversucht, um dieser Verantwortung gerecht zu werden. Besonders beeindruckte der Solist mit der technisch anspruchsvollen Kadenz, die die Gefahr barg, das Konzert zu einer One-Man-Show verkommen zu lassen.
Dies wäre angemessen für eines der imperialen Klavierkonzerte aus Tschaikowskis Zeiten, doch hier umging Erkki-Sven Tüür diese Gefahr geschickt. In der Art, wie er gerne den Klang durch die Register wandern lässt, ohne dass dabei klare Zäsuren zu bemerken sind, erinnert das Konzert mitunter an Ligetis „Atmosphéres“. Nach berückenden Melodien suchten die Zuhörer*innen natürlich vergebens – dafür konnte der zum Teil eisenbahnhafte Rhythmus die romantischen Herzen des Berliner Publikums doch erweichen. Warmer, mitunter frenetischer Applaus war die Folge.
Beethoven – etwas zu romantisch?
In der zweiten Hälfte präsentierte Järvi einen Beethoven, wie man ihn selten zu hören bekommt. So schien es dem hochgewachsenen Dirigenten mittlerweile um jegliche Zurückhaltung geschehen zu sein. Dem Willen jedes Sinfonieorchesters, melodische Stellen zu genießen, schnelle Tremoli in wildes Summen zu verwandeln, ließ er freien Lauf. Kurz: Die achte Sinfonie Beethovens, die an diesem Abend in der Philharmonie erklang, war so romantisch, dass sie auch gut neunzig Jahre später hätte komponiert werden können. Doch Järvi wäre nicht Järvi, wenn er nicht jede Feinheit und jedes Detail, das sonst einfach überspielt worden wäre, fein herausgearbeitet hätte.
Bei der achten Sinfonie Beethovens handelt es sich ohnehin um eine einzigartige Schöpfung – Järvi trug dem leichten, tänzerischen Charakter, für den Beethoven sonst weniger bekannt ist, eindeutig Rechnung. Ein schweres, in Trauer marschierendes Adagio, wie Beethoven es mit seiner dritten Sinfonie etablierte, bleibt in der Achten aus. Dafür wiederholt sie die frivolen Tänze der siebten Sinfonie, bleibt ihrem Geist verhaftet. Über die Siebte schrieb Clara Schumann, Beethoven müsse betrunken gewesen sein, als er sie komponiert habe. Indem Järvi die hübschen Einwürfe der Holzbläser*innen fein herausarbeitete und doch einen tänzerischen Unterton beibehielt, blieb er damit zumindest der Idee der Sinfonie treu.
Die Philharmoniker*innen blieben damit mit ihrer Expertise für Beethoven und alles Romantische nicht hinter den Erwartungen zurück. Diesen Beethoven honorierte das Berliner Publikum, das sonst oft mit moderner Klassik geplagt wird, mit glücklichem Applaus am Ende. Musik, so meinen Musiker*innen meist, ist eine universale Sprache. Das wurde ohne Zweifel deutlich: Ohne dass ein Wort gesagt werden musste, nur mit dem meisterhaften Einsatz lustvoller, ja, lustiger Tanzklänge brachte der erste Satz von Beethovens achter Sinfonie die Zuhörer*innen tatsächlich zum lauten Lachen. Wieso? Unbekannt. Aber dass die Gefühle, die der griesgrämige, taube Bonner Wiener in diese Noten legte, an diesem Abend verstanden wurden, ist offensichtlich. Da tut auch die übertriebene Romantisierung des letzten Klassikers nicht mehr weh.
Gleichwohl mutet das „Erfolgsmodell“ etwas altbacken an. Wenn schon in der Interpretation neue Wege beschritten werden, wieso dann nicht auch in der Konzeption des Abendprogramms? Den verwöhnten Ohren des Berliner Publikums soll wohl nicht allzu viel zugemutet werden.
Foto: Stephan Rabold