Er ist in keiner Podcast-App zu finden. Er liegt so tief im Internet vergraben, nur AOL-CDs weisen den Weg zu seinem Versteck. Er hört sich an, wie schon lange keine Sprachnotiz mehr klingt: Er knarzt, hallt und schnarrt, wie ich es nicht mehr knarzen, hallen und schnarren gehört habe seit ich mein altes Nokia beerdigt habe– der erste Podcast der Welt
Auch inhaltlich ist er eine Zeitreise in eine Welt, deren Existenz ich längst verdrängt habe. Die ersten Worte in der ersten Folge des ersten Podcasts der Welt: „I feel like a new immigrant in this bloggerworld where you are a kind of founding father – walk me around!”. Sie richten sich an Dave Winer. Er und der Host des Podcasts, Christopher Lydon treffen sich Anfang der 2000er in Harvard auf einer Bloggerkonferenz. Lydon, der erfahrene Journalist und Moderator, der sich kurz zuvor im Streit von seinem Radiosender getrennt hat. Winer, der Unternehmer, Netzbastler und Blogger, der gerade an einem RSS-Standard arbeitet, um Audiodateien in Blogs einzubinden.
Winer will Lydon zum Bloggen bringen, der hängt aber offensichtlich zu sehr an seiner Stimme, und so bekommen Radio und Weblog ein Kind: den Audioblog „Open Source“. Lydon, zuvor einer der bestbezahltesten Radiomoderatoren, produziert seine Sendungen von nun an in einem kleinen Büro und mit Ausrüstung, für die ihn jeder YouTuber heute mitleidig belächeln würde. Dank Winers Programmierarbeit lassen sich die Sendungen per RSS-Feed downloaden. Im Juli 2003 dann ist Winer Lydons erster Gast und darf den 63-jährigen Journalisten in der Welt der Blogger begrüßen. Und wenige Monate später schreibt der MTV-Host Adam Curry ein Skript, das ihm den „automagical“ Download der Sendung auf seinen iPod erlaubt. Das erfolgreiche Musikabspielgerät aus dem Hause Apple wird dann auch tatsächlich namensgebend für automatisch heruntergeladene Hörbeiträge – also Podcasts eben. Die Wortmixtur aus iPod und Broadcast setzt sich durch und wird 2004 vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres gewählt.
Aber „Open Source“ will nicht einmal ein Podcast sein. Zugegeben, das Wort gibt es anfangs noch gar nicht. Aber Lydon nennt seinen Podcast zu Recht Audioblog. Denn der älteste Podcast der Welt ist viel mehr Blog als irgendetwas anderes. Lydon postet ganz einfach Audiodateien auf einer Webpage. In rund zwanzigminütigen Sitzungen spricht er mit verschiedenen Bloggern. Die erzählen aufgeregt aus ihrer „blog-world“, in der kluge Köpfe frei vor sich hinschreiben und ahnen, dass das, was sie da tun, alles verändern wird.
Wer Lust hat, die Anfänge des Internets, wie wir es kennen, noch einmal zu fühlen, wer dem Netz dabei zuhören möchte, wie es unsere Öffentlichkeit umbaut, dem sei Christopher Lydons Open Source wärmstens empfohlen. Egal ob man das tut, weil man 2003 noch Zeitung auf Papier gelesen hat, noch gar nicht lesen konnte oder auch, weil das Internet damals noch wirklich Neuland war – spannend und edgy.
Der Traum der großen Revolution
Dabei ist es nicht nur spannend, sondern oft auch einfach berührend, wie diese erwachsenen Menschen sich über eine Revolution freuen, in deren Mitte sie sich wähnen. Sie sind sich ganz sicher – nun wird die Demokratie aufblühen und die vollkommene Pressefreiheit endlich Wirklichkeit. Netzwerke von unabhängigen Denker*innen werden entstehen. Und doch müssen Lydon und seine Gäste immer wieder die traurige Realität anerkennen: Bush konnte mit der Lüge von den Massenvernichtungswaffen in den Irakkrieg ziehen und niemand empört sich so wirklich darüber. Die Blogger haben dem wenig entgegenzusetzen, träumen aber mutig weiter. Lydons Bloggerfreunde wissen zu dem Zeitpunkt noch nicht, was aus ihrer großen Errungenschaft werden wird.
Aber bald schon werden sich auf tumblr nur noch Katzen tummeln, zwischendrin vielleicht mal ein nichtssagendes Zitat eines unterklassigen Deutschrappers. Bald schon wird der einzige Grund, diese einmal großartige und immer noch große Bloggingplattform zu besuchen, ihr loyaler Liebhaber Frank Ocean sein. Sie konnten es nicht ahnen – zu Beginn dieses Jahrtausends. Sie träumten von Netzwerken unabhängiger Denker*innen. Dass das erfolgreichste soziale Netzwerk so schnell das genaue Gegenteil dessen werden würde – das schien für Lydon und seine Gesprächspartner unvorstellbar. Und das macht es so traurig schön, ihnen beim Reden zuzuhören.
Hier kann man sich die ältesten Folgen von „Open Source“ anhören.
Foto: „blogaudio.org“