Die „Paranzini“ von Neapel sind fiktiv und doch real. Für seinen Erfolgsfilm steht Roberto Saviano in der Kritik: Neapels Bürgermeister zufolge ist er unfähig, die Stadt und die Mafia vollständig zu analysieren. Doch obliegt es nicht ihm, über das Phänomen Mafia aufzuklären

Für das Drehbuch von „La paranza dei bambini“ (Claudio Giovannesi, 2018) erhalten Roberto Saviano, Claudio Giovannesi und Maurizio Braucci den Silbernen Bären – ein internationaler Erfolg. Doch wird die Nachricht in Neapel erst mit Zurückhaltung und dann mit Kritik aufgenommen. Neapels Bürgermeister Luigi de Magistris hält die Narration des Films für unvollständig. Autor und Journalist Roberto Saviano ist seit seinem Bestseller „Gomorra“ (2006) immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt. Oft heißt es, er mache Neapel schlecht oder zerstöre die Arbeit der lokalen Anti-Mafia-Kämpfer – ein Vorwurf, der jenen, die über die Mafia sprechen, andauernd gemacht wird. So lenkt die Debatte um den Film vom eigentlichen Problem ab: dem allgemeinen Unverständnis der Mafia.

Die „Paranzini“ von Neapel: Jugendliche ohne Perspektive

„La paranza dei bambini“ basiert auf Roberto Savianos gleichnamigem Roman und erzählt
die fiktive Geschichte einer aufsteigenden Baby-Gang in Sanità, einem Problemviertel Neapels. Doch was das Berlinale-Publikum auf der Leinwand sieht, ist in Neapel schiere Realität – sei es der Raub des Wunschweihnachtsbaums aus der Einkaufspassage Galleria Umberto oder der Tod eines 19-jährigen Baby-Bosses. Wer sich mit Neapel oder der dortigen Mafia, der Camorra, auskennt, versteht die Motive der Jugendlichen und weiß: Das Thema des Films ist politisch und gesellschaftlich hochbrisant.

Mafia- oder Bildungsfilm?

Inwiefern Filme dazu beitragen können, das Verständnis für das Phänomen Mafia zu erhöhen, ist schwer zu sagen. Bisher haben viele Mafiafilme das Bild der organisierten Kriminalität verklärt. „La paranza dei bambini“ macht es anders und der Silberne Bär ist auch deshalb verdient: Der Film schafft es aus dem Kriminalgenre heraus und bricht mit der dunklen Faszination für die Mafia. Er ist keinesfalls zu vergleichen mit der „Godfather-Trilogie“ Francis Ford Coppola, 1972, 1974, 1990) oder „Gomorra“ (Matteo Garrone, 2008), auch nicht mit der gleichnamigen Serie (2014). Stattdessen führt der Spielfilm den italienischen Neorealismus fort, eine nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstandene Bewegung, die das Leben und die Erfahrungen der einfachen Menschen, das „reale Italien“, reflektierte. „La paranza dei bambini“ wurde an Originalschauplätzen gedreht. Die „Paranzini“ wurden von Laiendarstellern gespielt, die selbst aus Problemvierteln Neapels kommen und die Realität des organisierten Verbrechens kennen. Es geht schließlich um die Menschlichkeit, das Leben
und die Emotionen der Jugendlichen. Einer der Drehbuchautoren, Claudio Giovannesi,
beschreibt das so: „Der Film handelt mehr vom Verlieren der Unschuld der Jugendlichen als von der organisierten Kriminalität. Es geht nicht um Straftäter, sondern um Jugendliche, die Liebe und Freundschaft erfahren, wie Jugendliche anderer Städte und sozialer Klassen auch – nur entscheiden diese sich für die Kriminalität.“ „La paranza dei bambini“ ist ein Versuch, die Motive der Jugendlichen nachvollziehbar zu machen.

Neapels Bürgermeister Luigi de Magistris bemängelt nicht die Qualität des Films. Generell lobt er die schauspielerische Leistung der Jugendlichen und betont, die Stadtverwaltung habe das Filmteam während der Dreharbeiten unterstützt. Vielmehr kritisiert er Savianos „Unfähigkeit, den Körper, die Seele, das Herz und den Geist der Stadt Neapel zu zeigen“. Saviano sei weiterhin nicht dazu fähig, Neapel zu analysieren, eine Stadt, die einer korrekten Erzählung bedarf. Zwar komme es noch zu Schießereien, jedoch herrsche eine „kulturelle Wiedergeburt“ vor, an der auch viele Jugendliche teilhaben. Weiterhin sagt er: „Wir verstecken die Schießereien nicht, auch nicht die Camorra und die Kriminalität. Wir sehen diese Dinge jeden Tag. Im Unterschied zu Saviano, der sie nur in Texten und Filmen erzählt, kümmern wir uns um die Opfer und die Verletzten und wir arbeiten daran, die Camorra aus der Politik zu verbannen. Hier gibt es Lehrer, Polizisten, Richter, Carabinieri, die Verwaltung und die Bürgerschaft, die für ein anderes Neapel kämpfen.“ De Magistris hat insofern recht, als dass der Kampf gegen die Mafia oft viel zu wenig thematisiert wird und Filme wie „Gomorra“ oder „La paranza dei bambini“ vor allem Hoffnungslosigkeit verbreiten. De Magistris fügt hinzu, dass in Neapel alle wissen, dass Filme wie „La paranza dei bambini“ einen Nachahmeffekt bei Jugendlichen hervorrufen können. Für de Magistris und andere Anti-Mafia-Kämpfer mögen die sich häufenden Darstellungen Neapels als Mittelpunkt der Camorra frustrierend sein. Angesichts der sozialen Lage in Neapel und des weitverbreiteten Unverständnisses des mafiösen Phänomens wären komplexe, multiperspektivische Geschichten in Literatur und Film wünschenswert. Aber ist es Aufgabe eines Films, einen erzieherischen oder gar sozialpolitischen Auftrag zu erfüllen?

Die Verantwortung der Zuschauer

Die Frage, ob Kino aufklärerisch sein sollte, ist bei einem Film, der (auch) das mafiöse
Phänomen thematisiert, zunächst nicht so einfach zu beantworten, denn internationale
Filmerfolge wie „Gomorra“ oder „La paranza dei bambini“ beeinflussen die Zuschauer. Zwar sind die Reaktionen des Publikums nicht eindeutig bestimmbar. Es besteht aber zumindest die Möglichkeit, dass beispielsweise Jugendliche unreflektiert mit dem Thema umgehen oder Zuschauern gewisse Bilder im Kopf bleiben, die Stereotypen zementieren können: „In Neapel existiert kein Staat. In Neapel ist alles Camorra.“, heißt es nicht nur in Deutschland viel zu oft. Doch natürlich ist Kino nicht für Bildung verantwortlich. Kunst ist nicht Politik und Autoren wie Braucci, Giovannesi und Saviano haben einzig die Aufgabe, zu erzählen. Diskussionen darüber, was Filme zeigen oder ob Filme überhaupt gezeigt werden sollten, deuten oftmals auf ein grundlegenderes Problem hin: Der Gegenstand des Films ist nicht gesellschaftlich und politisch aufgearbeitet. Nicht der Inhalt des Films ist problematisch, sondern der mangelnde oder falsche Umgang mit diesem.

Es obliegt also vor allem dem Zuschauer, der nicht nur als Kulturkonsument fungiert, sondern als politisches und soziales Wesen dafür verantwortlich ist, einen Film richtig einzuordnen, sich zu fragen: Entspricht das, was ich da sehe, der Realität? Aus welchen Gründen mögen Jugendliche so handeln? Welche Rolle spielen die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft? Und: Existieren sie eigentlich auch hier, die Baby-Gangs? Oder die Mafia? Wenn Zuschauer sich diese Fragen aus verschiedenen Gründen nicht stellen oder gar einer gewissen Faszination erliegen, ist dies nicht den Autoren und Regisseuren anzulasten.

Die Mafia – ein europäisches Problem?

Saviano verteidigt seine Arbeit immer wieder gegen Kritik oder Missverständnisse. Über „La paranza dei bambini“ sagt er, dass es sich dabei nicht um eine Geschichte über Neapel
handele, sondern um ein zeitgenössisches Phänomen, das überall auf der Welt beobachtbar sei: „Paranzini“ existieren in Los Angeles, Moskau und Berlin. Es handele sich um Jugendliche, denen es nur um Geld und Macht, um Statussymbole wie Schuhe von Nike, schöne Mädchen, trainierte, wenn möglich braun gebrannte Oberkörper gehe. Sie handeln nach den Maximen: „Schieße, bevor du erschossen wirst“ und „Nimm dir alles, was du willst“. Auf der Bühne der Berlinale zeigt Saviano das Musikvideo „Kokaina“ von Miami Yacine und sagt: „Jugendliche in Deutschland teilen dieselben Sprachcodes und Werte.“ Baby-Gangs existieren auch in Deutschland, nur haben diese ein leichteres Spiel, weil hierzulande kaum über sie gesprochen werde. Auf die Frage hin, ob er Hoffnung für die Situation in Neapel hege, sagt er, er glaube nicht, dass die aktuelle Regierung gewillt sei, etwas gegen das mafiöse Phänomen zu unternehmen. Außerdem sei dies auch kein italienisches Problem, sondern ein europäisches. Die Baby-Gangs sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.

„La paranza dei bambini“ kurzgefasst: Die Geschichte geht so: Nicola und seine Freunde wachsen in Armut und Perspektivlosigkeit auf. Wie viele Jugendliche aus dem Viertel gehen sie nicht zur Schule. Stattdessen rasen sie mit ihren Motorrollern durch die Stadt und sorgen für Randale. Sie träumen von Geld und Macht, von Designer-Klamotten und schönen Mädchen. Nicolas alleinerziehende Mutter schlägt sich mit einer kleinen Reinigung im Viertel durch. Wie alle Gewerbetreibenden zahlt sie regelmäßig Schutzgeld an die Camorra. Nicola findet das ungerecht. Gemeinsam mit seinen Freunden fordert er die Bosse im Viertel heraus, um es abzuschaffen. Mit Pistolen und Gewehren erkämpfen sie sich das Sagen im Viertel. Ihr Sieg währt allerdings nicht lange, denn der Clankrieg beginnt gerade erst und Baby-Gangs wie sie sind zum Tode verurteilt.