Bei der Demonstration gegen den Vortrag einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Humboldt-Uni im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften (LNDW) kochen die Gemüter hoch. Ein Report zwischen wissenschaftlicher Freiheit, dem respektvollen Umgang mit Trans*menschen und der Frage, wem die Universität eine Plattform bietet.

Samstag, den 02. Juli 2022 um 16:30 Uhr. Vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität versammelt sich eine bunte Gruppe von etwa 50 Menschen. Einige tragen Regenbogenfarben. Sie sind hier, um gegen den Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht zu demonstrieren. Der Grund: Ihr wird Transfeindlichkeit vorgeworfen. Wir haben der wissenschaftlichen Mitarbeiterin die gegen sie erhobenen Vorwürfe vorgelegt und sie um eine Stellungnahme gebeten, bis zur Veröffentlichung dieses Beitrags hat uns keine Antwort erhalten.

Angefangen hat wohl alles mit einem Artikel, den die WELT am 01. Juni dieses Jahres auf ihrer Website veröffentlichte. Dieser trug den polemischen Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“. Unter den sechs Autor*innen befand sich auch Vollbrecht. In dem Artikel werfen die Verfasser*innen den Öffentlich-Rechtlichen vor, nur noch „eine Inszenierung von Journalismus“ zu bieten, indem durchgängig die Tatsache geleugnet werde, dass es nur zwei Geschlechter gebe. Sie behaupten, es handele sich um „verstörende realitätsverzerrende Meinungsmache“, und beziehen sich dabei insbesondere auf das „Trend-Thema trans“.

Nun sollte Vollbrecht im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften 2022 einen Vortrag an der Humboldt-Universität halten. Online waren dazu kaum Informationen zu finden. Andere Vortragende hatten den Arbeitskreis Kritischer Jurist*innen (AKJ) informiert, diese wiederum riefen zum Protest auf. Unter dem Titel „Keine Bühne für trans*feindliche Ideologien an der HU“ erhoben sie schwere Vorwürfe. Die These, in der Biologie gebe es nur zwei Geschlechter, sei nicht nur „unwissenschaftlich, sondern menschenverachtend und queer- und trans*feindlich!“. Die Hauptorganisator*innen, der AKJ, bezeichnen es als „absolut daneben“, dass die Uni dafür ihren prominentesten Raum zur Verfügung stelle.

Eine kontroverse Demo?

Bereits zu Beginn, als der AKJ die Demo einleitet, steht fest: Der Vortrag wurde abgesagt. Dennoch sei es gut, dass so viele Leute gekommen seien, um ein Zeichen zu setzen. Ein*e Vertreter*in erklärt, dass online bereits einige TERFs (trans-exclusionary radical feminists) ihren Unmut über die Kritik an dem Vortrag geäußert hätten. Aus den hinteren Reihen ruft jemand: „Ja, ich!“ Die Antwort: „Na dann viel Spaß hier!”

Was hat den AKJ dazu bewegt, diese Demo zu veranstalten? „Wir kennen alle den WELT-Artikel. Wir kennen alle die kruden Thesen, die darin verbreitet werden“, sagt eine*r der Initiator*innen. Es sei inakzeptabel, dass ausgerechnet bei der Langen Nacht der Wissenschaften eine Person, die nicht einmal in dem Feld der Geschlechterforschung tätig sei (Anm. der Redaktion: Vollbrecht ist vorrangig Meeresbiologin), unwissenschaftliche Thesen vertrete. Das wollte man nicht unbeantwortet lassen.
Ein Teilnehmer, der auch an der HU studiert, erzählt, er habe bei einer anderen Gegendemo von dieser Demo erfahren. Sein Hauptanliegen: Er möchte zeigen, dass Trans*menschen an der Uni willkommen sind. Er hat sich vorher über Vollbrecht und ihre Ansichten informiert. Sein Fazit: „Not cute.“

Eine andere Teilnehmer*in hat von der Demo über eine Whatsapp-Gruppe erfahren. Sie hatte den WELT-Artikel zwar überflogen, aber nicht gelesen. Ihr geht es weniger um die Einzelperson, als darum, ein Zeichen gegen diese Stimmen zu setzen, die von mehr Leuten kommen als nur Vollbrecht. Auch einer anderen Teilnehmer*in ist das wichtig: ein Zeichen setzen. Den WELT-Artikel fand sie „absurd“. Eine kommt von der TU, eine von der HU.

Vollbrecht macht gegen Trans*personen mobil

Eine Aktivist*in wirft Vollbrecht vor, in ihren vielen Interviews und Beiträgen permanent nicht über Biologie zu sprechen, sondern auf einer rechtlichen, medialen und politischen Ebene gegen Trans*personen und ihre Rechte mobil zu machen. „Sie bedient dabei einer Sprache und Argumentationsweise, die klassisch für die Neue Rechte und das rechtskonservative Spektrum steht”, so die Aktivist*in. Vollbrecht beschreibe Eliten, die die Medien aus dem Hintergrund steuern würden – damit bediene sie antisemitische Stereotype. Sie spreche von „Genderideologie” und der Frühsexualisierung der Kinder, was eine rechtskonservative bis christlich-fundamentalistische Argumentationsweise sei und eben diese Menschen anspreche.

Kurz: Ihre Positionen zur Biologie seien fragwürdig, da sie eindeutig eine politische Agenda verfolge. „Was jetzt gerade brisant ist, weil aktuell das Selbstbestimmungsgesetz vom Bundestag ausgearbeitet wird” Dieses soll Trans*menschen mehr Rechte einräumen. Solchen Menschen solle man keine Plattform bieten, so die Aktivist*in. Sie studiert auch an der HU: Gender Studies.

Bedroht die Absage die wissenschaftliche Freiheit?

Eine weitere hitzige Debatte entspinnt sich um die Frage danach, was wäre, hätte dieser Vortrag stattgefunden. Die Thesen hätten als wissenschaftliche Fakten im Raum gestanden. Außerdem handele es sich bei Vollbrechts Ansichten um eine extreme Position, die dadurch legitimiert würde. Schließlich sind nicht immer beide Seiten einer Argumentation gleichwertig. Die Zuhörenden hätten sich aber auch selbst ein Bild machen können. Vielleicht lehnen sie nach dem Zuhören die Position auch ab. Man dürfe gleichzeitig aber nicht unterschätzen, welche Wirkkraft eine starke Rhetorikerin wie Vollbrecht entfalten könne – auch ohne wissenschaftliche Fundierung. Doch hätten sich einige statt der Absage des Vortrags eine Debatte gewünscht. Wie wirkt die Rednerin live, ungeschnitten? Wie reagiert sie? Andere meinen dagegen, dass Vollbrecht nicht dafür bekannt sei, Raum für Debatten zuzulassen.

„Ich finde es schwierig, da die Grenze zu ziehen: Ab wann macht ‚No Platforming‘ Sinn, und wo muss man diesen Diskurs führen? Aber gerade an dem Punkt, wo ersichtlich ist, dass es eine sehr konfrontativ formulierte Position ist, die auch dazu tendiert, Leute von vornherein auszuschließen, die auch durch die Art, wie es ausgedrückt ist, damit einer psychischen Belastung ausgesetzt sind, sind auch die Bedingungen für so einen offenen Dialog nicht gegeben. Damit ist es vom wissenschaftlichen Konsens weit entfernt“, meint eine Person während der hitzigen Debatte. Sie weist darauf hin, dass es zudem einen Unterschied zwischen Redefreiheit und dem eine Plattform zu bieten gebe. Die Uni werde als epistemische Autorität anerkannt, Vollbrecht würde von sich behaupten, den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu vertreten, und da es sich bei der NDLW um eine öffentliche Veranstaltung handele, müsse man da umso mehr aufpassen. Offene Diskurse führten letztendlich zu wissenschaftlichem Konsens.

Meinungsvielfalt bei der Demo

Diese Debatte wird von anwesenden Studierenden geführt. Doch was denken andere Menschen? Einige Schaulustige kommen und fragen, was das denn hier für eine Demonstration sei. Eine Frau ist interessiert; sie findet die Demo gut. Auch eine Polizistin kommt und fragt, was Vollbrecht denn eigentlich erzählen wollte bei dem Vortrag. Plötzlich kommt ein Mann auf die Demonstration zu. Laut ruft er: „Ihr wisst schon, dass es biologisch nur zwei Geschlechter gibt, ne?“ Es folgt ein Wortgefecht zwischen ihm und der Aktivist*in, die sich vorhin gegen Vollbrecht ausgesprochen hat. Danach geht er zurück zu seiner Frau, die weiter weg einen Kinderwagen vor sich herschiebt.

Dann wird skandiert: „TERFs verpisst euch, keiner vermisst euch“ und „Trans rights are human rights“. Eine Person mit einem Flyer schließt sich dem Protest an. Den Flyer hat sie von der Gegendemo bekommen, die sich gerade zusammengefunden hat. Die Ankunft der „TERFs“ hatte den Protest veranlasst, lauter zu werden. Die Rufe von der Gegendemo werden durch laute „Was?“-Rufe der eigentlichen Demo unterdrückt.

Doch was sind das für Menschen, die Vollbrecht unterstützen und deshalb diese Gegendemo organisiert haben? Auf der gegenüberliegenden Seite stehen etwa 10 Menschen. Die Gegendemo ist also deutlich kleiner ausgefallen als der Protest gegen Vollbrechts Vortrag. „Wir sind hier für Marie“, sagt eine Person. Die Gegendemo hat sich spontan zusammengeschlossen, als der Vortrag abgesagt wurde. „Wir sind damit nicht einverstanden“.

Gegendemo: Zweigeschlechtlichkeit ist Fakt

Eine der Gegendemonstrant*innen sagt, sie würden sich für Meinungs- und Redefreiheit einsetzen. Sie seien gegen Zensur – in einer Demokratie solle man die Möglichkeit haben, sich frei auszudrücken. Für sie gehe es bei der Debatte darum, Frauen- von Trans*-Rechten abzugrenzen. Als Beispiele nennt sie Frauenhäuser und lesbische Gemeinschaften. Das, was Frauen sich über lange Zeit aufgebaut hätten, würde im Namen der Progressivität gefährdet werden. Trans*menschen würden sich „gegen die Biologie“ entscheiden. Laut ihr ist die Zweigeschlechtlichkeit der wissenschaftliche Fakt. Und ein Vortrag über Naturwissenschaften solle nicht abgesagt werden, „nur weil da irgendeine Gruppe bei der Uni Rabatz macht.“

Eine andere Gegendemonstrantin, die selbst an der HU studiert hat, stellt daran anschließend Fragen in den Raum: „Was kommuniziert das Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich in ihrer Karriere, solange sie noch keine Professur haben, durch Stipendien und anderweitige Finanzierungen halten? Was kommuniziert es denen, wenn sie für die Themengebiete, die sich erschlossen haben, gecancelt werden, und das nicht mehr vortragen können?“

Aber was sagen sie dazu, dass die Sprache von Vollbrecht als ausgrenzend wahrgenommen wird und zu der Sorge, dass ihr Vortrag in extremistisches Gedankengut spielt? Was ist mit den Leuten, die Angst haben, dass dies in Gewalt gegen sie mündet?

Sie könne verstehen, dass man sich im Patriarchat mit den zugewiesenen Rollen nicht wohlfühle, so die erste Gegendemonstrantin. Das verändere nicht „die Natur“. Frauen als solche zu bezeichnen, sei keine Hassrede. Die Frage hat sie damit nicht beantwortet, also nachgehakt: Wenn sie inhaltlich mit Vollbrecht übereinstimmt – kann sie sich vorstellen, dass die Art und Weise, wie sie ihre Thesen formuliert, als Hassrede aufgefasst werden kann? Die andere Gegendemonstrantin schaltet sich ein: Was an ihren Formulierungen sei denn problematisch? – Der WELT-Artikel. Das sei doch etwas anderes. Wir wüssten schließlich nicht, wie sie das Ganze an der Universität formuliert hätte. Das stimmt – da der Vortrag nicht stattgefunden hat, können wir das nicht wissen. Doch selbst wenn sie die Polemik des Artikels nicht in ihre Vorträge übernimmt, ist es wohl verständlich, dass sich bei Menschen Gegenwehr regt, die nur diesen Artikel kennen.

Sicherheitsbedenken: Wer wird hier von wem bedroht?

Die WELT veröffentlicht am Samstag 18 Uhr einen zweiten Artikel, in dem Sicherheitsbedenken als Grund für die Absage genannt werden. Die HU wird damit zitiert, sie bedauere die Absage und werde den Vortrag in der Zukunft nachholen. Auch die BILD, die wie die WELT vom Springer-Verlag veröffentlicht wird, schaltet um 19 Uhr am gleichen Tag einen Artikel zu der Angelegenheit. Demnach habe Vollbrecht mit dem Vortrag nachzeichnen wollen, dass „das biologische Geschlecht (Sex) und Geschlechterrollen (Gender) unterschiedliche Dinge sind“ – dies ist eigentlich anerkanntes Wissen. Ohne die anstößige Sprache des WELT-Artikels wäre vielleicht gar kein Protest entstanden. Die BILD zitiert eine Sprecherin der HU damit, die Debatte um den Vortrag hätte gedroht, alle anderen Angebote zu überschatten. Vollbrecht selbst wird folgendermaßen zitiert: „Das Einknicken vor radikalen gewaltbereiten Aktivisten, die kein Verständnis von Biologie haben, ist verständlich, aber alarmierend.“

Vor Ort schienen die Demonstrant*innen nicht radikal und gewaltbereit zu sein. Es lief Musik, es wurde skandiert, es wurde debattiert. Was vor allem auch die Gegendemo aufzeigt: Es gibt viel Frust auf beiden Seiten. Vielleicht hätte man, statt den Vortrag abzusagen, wirklich eine*n starke*n Gegenredner*in einladen sollen. Doch wer wie Vollbrecht im Vorfeld Sprache benutzt, die eindeutig auf Provokation und Antagonismus ausgelegt ist, muss sich auch nicht wundern, wenn ihnen die Bühne entzogen wird.


Foto: Rubén Vique/ flickr