Mehr als 7.000 Geflüchtete befinden sich noch auf den griechischen Inseln an Europas Außengrenze, die meisten von ihnen auf Lesbos. Über sie wird jedoch kaum noch gesprochen. Der Schrecken um Moria scheint lange in Vergessenheit geraten. Dabei hat sich die Situation nicht grundlegend geändert.

Lange war es still um das Geflüchtetencamp auf der griechischen Insel Lesbos. Der große Brand von „Moria“ hatte im September 2020 wieder große Aufmerksamkeit auf das Elend der Geflüchteten gerichtet, in dem sie leben mussten.

In dem neu errichteten „Camp Karatepa 2“ galten zunächst äußerst verheerende Bedingungen. Es mangelte an Nahrung, Hygiene und an sicheren Schlafplätzen. Auch zu dieser Zeit gab es noch ein großes weltweites Interesse an der Situation der Geflüchteten und viel Kritik an der Europäischen Union wegen des menschenunwürdigen Umgangs mit ihnen. Einige Länder haben Geflüchtete von Lesbos direkt nach dem Brand aufgenommen. So holte auch Deutschland  vor zwei Jahren 2.812 Menschen zu sich.

Doch dann wurde es wieder still. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Schwierigkeiten verschwanden. Allerdings wurden weder für das Problem der  schlechten Bedingungen, unter denen die Geflüchteten im Lager leben, noch für ihre Hoffnungslosigkeit nachhaltige Lösungen gefunden. Nur wenige Geflüchtete hatten  die Möglichkeit, die Insel zu verlassen. Meist landen sie unweigerlich in Athen, wenn ihr Asylantrag angenommen wird. Das ist in der Realität jedoch meist noch schlimmer als das Verweilen auf Lesbos. Viele sind in Athen obdachlos, ihnen fehlt das Geld für eine Weiterreise oder sie finden keine Arbeit. Oft laufen auch ihre EU-Reisedokumente ab. Es fehlt eine organisierte Begleitung und Unterstützung der Geflüchteten. Einige werden spontan in ein anderes Camp auf die Insel Samos umgelagert. Dass dieses Camp aber wenig von einer fälschlich angepriesenen attraktiveren Unterkunft und dafür viel mehr von einem Hochsicherheitsgefängnis hat, ist ein offenes Geheimnis. 

Während im Oktober 2015 mehr als 200.000 Geflüchtete in Booten auf den griechischen Inseln ankamen, sind es aktuell nur noch rund 1.500 Geflüchtete. Das liegt allerdings nicht nur an der kalten Jahreszeit, sondern auch an den Push-Backs der griechischen Küstenwache. Auch das ist bekannt.

Die genaue Anzahl der Geflüchteten, welche sich aktuell noch auf Lesbos befinden, ist schwierig zu ermitteln. Laut UNHCR, dem hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, leben aktuell rund 2.500 Geflüchtete auf Lesbos. Viele von ihnen im „Camp Karatepa 2“ an der Ostküste der Insel. Teilweise leben sie schon seit mehreren Jahren auf Lesbos. Für sie scheint es keinen Ausweg aus ihrer Lage zu geben. Sie fühlen sich allein gelassen, vergessen. 

“Niemand denkt an die mentale Gesundheit der Geflüchteten”

Besonders belastet durch die Situation im Camp sind die Frauen und Kinder. Die Griechin Villy T.* arbeitet als Projektmanagerin und Moderatorin für das „Azadi Project“, welches aktuell besonders in Polen ukrainische geflüchtete Frauen unterstützt. Außerdem bot sie bis Mitte 2022 mit diesem gemeinnützigen Projekt psychosoziale Unterstützung für geflüchtete afghanische Frauen auf Lesbos an.

Mithilfe von Sedighe A.*, einer iranischen Moderatorin und Dolmetscherin, wurden die afghanischen Frauen durch verschiedene Fragen und Anstöße geleitet, um ihre Geschichte aufzuarbeiten und Lösungen für Probleme zu entwickeln. Am Wichtigsten aber war es, ihre Lebenseinstellung positiv zu verbessern. Das Projekt wurde im März 2021 gegründet.  Zu Beginn des Workshops fühlten sich die Frauen meist gestresst, ängstlich, enttäuscht und traurig. „Das liegt hauptsächlich an den abgelehnten Asylanträgen, die sie erhalten haben“, erklärt Villy T. im Gespräch. 

Sedighe A., die 2019 selbst mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern aus Iran geflohen ist, sieht das ähnlich: „Nachdem sie lange unter den schlechten Bedingungen im Camp gelebt haben, können sie es nicht ertragen, wenn ein Asylantrag nach dem anderen abgelehnt wird. Das ist sehr schwierig für sie.“ Für die Geflüchteten gibt es wenig Abwechslung oder Ablenkung von ihrem prekären Alltag im Camp. „Aber solche Projekte oder jeder Zugang zu Bildung machen die Frauen überglücklich. Sie sehnen sich nach Wissen und Bildung“, sagt Villy T.

Im Camp mangelt es an Hilfe in allen Bereichen. Die schlechte mentale Gesundheit der Frauen beeinflusst irgendwann auch die physische Gesundheit: „Niemand denkt an ihre psychische Gesundheit. Besonders durch die abgelehnten Asylanträge werden die Frauen noch resignierter, als sie ohnehin schon sind. Sie fühlen sich, als würde ihre Situation im Camp niemals enden”, erklärt Villy T.

Auch Sedighe A. bekräftigt das: „Ich glaube, die Menschen im Camp brauchen eher einen Psychologen als einen Arzt. Sie brauchen jemanden, der ihnen zuhört. Ich habe das selbst erlebt, als ich mit einer Gruppe von Ärzten im Camp zusammengearbeitet habe: Die Menschen hatten physische Probleme, die alle eine psychische Ursache hatten.“ 

“Die Geflüchteten haben keine Kraft mehr”

Dazu kommen die Lebensbedingungen im Camp: „Sie reißen ihnen jegliches Leben aus. Die Frauen werden krank, haben Probleme wie Schilddrüsenerkrankungen, Fehlgeburten oder Sehschwierigkeiten“, sagt Villy T. Einige erleben auch zeitweise Gedächtnisverluste, ausgelöst durch den mentalen Stress. Das macht es für die Frauen sehr schwierig, etwas Neues zu erlernen oder mit ihrer Situation besser umzugehen.  „Viele werden auch depressiv, weil die Tage immer eintönig und gleich sind“, erklärt Villy T.

Auch wenn das Projekt den Frauen Trost spendet, weiß sie: „Die Freude, die sie bei den Sitzungen erleben, ist nur vorübergehend, ihr Schmerz ist es nicht.“ Seit das Projekt existiert, hat sich die Situation im Camp minimal verbessert; anstatt Zelten gibt es jetzt Container. An anderen Stellen  hat sich die Situation für die Frauen allerdings drastisch verschlechtert: „Sie fühlen sich gefangen. Die Aussicht auf das Verlassen der Insel scheint für sie immer unwahrscheinlicher, weil sie mittlerweile immer mehr Ablehnungen ihrer Asylanträge erhalten haben“, erklärt Villy T.

Wenige Frauen sind wütend, viele Frauen sind nur noch traurig und müde: „Die Geflüchteten haben keine Kraft mehr. Einige Männer haben bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Kinder im Camp sind depressiv und ihre Eltern können nichts für sie tun“, so Sedighe A. 

Sie denkt vor allem an die Kleinsten: „ Einmal kam ein Freund meines Sohnes im Camp zu mir und hat mich nach der Bedeutung eines Gefängnisses gefragt. Nachdem ich es ihm erklärt hatte, hat er mich angeschaut und gesagt: ,Also ist das Camp ein Gefängnis.‘ Ich werde diesen Satz nie vergessen können.“

Weiterhin keine Lösung in Sicht

Bereits Mitte Oktober ertranken 18 Geflüchtete nahe der Insel Lesbos, nachdem ein überbesetztes Schlauchboot bei stürmischem Wetter gekentert war. Es war neben dem Schiffsunglück vor der griechischen Insel Kythira, bei dem 22 Menschen ums Leben kamen das zweite Schiffsunglück innerhalb von einem Tag.

Die Situation auf Lesbos sowie den anderen griechischen Inseln hat sich nicht schlagartig gebessert, auch wenn aktuell kaum über die Geflüchteten an Europas Außengrenzen gesprochen wird. Weder die EU oder Griechenland haben bislang einen humaneren Weg gefunden, mit den Geflüchteten umzugehen, noch sehen die Geflüchteten eine Möglichkeit, ihrer Situation zu entkommen. Für sie geht es nicht vorwärts, aber auch nicht zurück. Ihre Asylanträge werden nicht genehmigt, aber sie können auch nicht wieder zurückgeschickt werden.

Sie befinden sich in einem Zustand des Nichts – die Vergessenen.


Fotos: Villy T.

*Anm. d. Red.: Die Nachnamen der Protagonist*innen wurden zu ihrem Schutz anonymisiert. Die Interviews wurden auf Englisch geführt und sinngemäß ins Deutsche übersetzt.