„Paradies der kulturellen Möglichkeiten“, „Ich habe nur Schlechtes gehört“, „Total vermüllt“, „Alle Clubs haben 24/7 offen“ – jedes Jahr ziehen tausende junge Menschen nach Berlin, um dort zu studieren und im besten Fall ein neues Zuhause zu finden. Manche von ihnen haben hohe Erwartungen an ihr neues Leben in der Hauptstadt.

Ein Umzug wird meist von Vorstellungen darüber begleitet, wie das zukünftige Leben am neuen Wohnort aussehen könnte. Bis die Realität einen einholt, bleibt viel Raum für persönliche Erwartungen — dazu gehören positive, wie Neugier und Faszination gegenüber dem noch Fremden, sowie auch negative, zum Beispiel die Sorge vor Einsamkeit oder Heimweh.

Einen Ersteindruck des potenziellen Wohnorts haben junge Menschen häufig automatisch durch die Stereotype, die mit ihm verbunden sind. Dabei sind nur wenige Städte derart angereichert mit Klischees und Vorurteilen wie Berlin. Ungewöhnlich ist aber die Diskrepanz, die sich zwischen ihnen auftut. Ob dauerhaft feiernde, internationale Partymeuten in Friedrichshain, eine Anhäufung glänzender Diplomatenautos im Regierungsviertel, Spinat-Smoothies und Jutebeutel im Prenzlauer Berg, oder ein heruntergekommenes Konglomerat an überquellenden Mülleimern — Assoziationen mit Berlin sind zahlreich und in ihrer Unterschiedlichkeit schwer zu überbieten. Diese Vorurteile, oft auch befeuert durch Serien, Filme und Medienberichte, beeinflussen die Erwartungen, die Studierende haben, bevor sie den Umzug in die Hauptstadt wagen. Auch frühere Erfahrungen können dabei prägend sein. Wer eine Stadt bereits mit den Eltern oder auf Klassenfahrt erlebt hat, konnte dadurch lediglich einen ersten Eindruck gewinnen. Was dabei aber nicht vergessen werden darf, ist der Unterschied zwischen dem Besuch eines Ortes und dem tatsächlichen Wohnen und Leben dort.

Für Berlin kann das Jahr 2020 insofern als besonders bezeichnet werden, als dass die Stadt zum ersten Mal seit 20 Jahren weniger Zuzüge als Wegzüge verzeichnete. Allerdings waren es immer noch 143.000 Menschen, die es im letzten Jahr in die Hauptstadt zog. Grob entspricht das der Einwohnerzahl einer mittelgroßen Studierendenstadt wie Regensburg in Bayern.

Individuelle Erwartungen sind nicht auf andere übertragbar

In Berlin studieren im aktuellen Wintersemester 2021/2022 rund 202.000 junge Menschen. So unterschiedlich wie die Mythen, die Berlin umranken, sind auch die Studierenden selbst. Jede*r unter ihnen bringt entsprechend unterschiedliche Einstellungen mit – seien es politische, gesellschaftliche oder soziale Haltungen, die die eigenen Ansprüche an das Leben in der Stadt mitformen. Während die eine Person sich nichts sehnlicher wünscht als Freizügigkeit und Anonymität, bereiten diese Aspekte einer anderen Unbehagen. Die positiven oder negativen Vorstellungen sind eng mit der eigenen Persönlichkeit verwoben.

Um einen Eindruck zu bekommen, welche Erwartungen junge Noch-Nicht-Berliner*innen an die Hauptstadt stellen, hat die UnAuf verschiedene Studierende nach ihren Wünschen und Hoffnungen befragt. Dabei waren Kommiliton*innen verschiedener Altersgruppen vertreten, sowie solche, die bereits weggezogen sind, oder noch planen, nach Berlin zu ziehen. Eines zeigte sich hierbei ganz deutlich: Manche von ihnen machte bereits die Vorstellung Angst, sich in Berlin eine Wohnung oder ein WG-Zimmer suchen zu müssen. Andere wiederum konnten es kaum erwarten, sich zum ersten Mal beim veganen Vietnamesen in Kreuzberg auszutoben.

„Eigentlich wäre mir etwas Entspannteres lieber gewesen.“

Vor allem der Partytourismus und die wilden Gerüchte über die Technoszene sorgen unter Studierenden für große Hoffnungen. Was viele an der Stadt attraktiv finden, hat Marco* (27) aus Peru eher abgeschreckt. Für ihn war Berlin nicht die erste Option, als er nach Deutschland gezogen ist: „Eigentlich wäre mir etwas Entspannteres lieber gewesen.“
Julia* (23) hingegen, die mit 18 nach Berlin kam, muss schmunzeln, wenn sie über ihre damaligen Erwartungen nachdenkt: „Ich war total naiv und dachte, man würde sich permanent in Mitte aufhalten.” Darüber hinaus habe sie sich Berlin vor allem offen und international vorgestellt. Berlin als Ort der freien Entfaltung der Persönlichkeit – das hat auch Emily* (21) erwartet, als sie in die Hauptstadt kam: „Endlich das machen, worauf ich Bock habe.” Sie war froh, sich nicht mehr im kleinstädtischen Raum bewegen zu müssen und an jeder Ecke etwas zu finden, was sie braucht, mag oder gerne unternimmt. Was die Wohnungssuche anbelangt, äußerte Jörg* (29) große Bedenken: „Erwartet habe ich auf jeden Fall einen kaputten Wohnungsmarkt. Berlin war mir eher suspekt.“

Was ist aus den Erwartungen geworden?

Erwartungen verwandeln sich durch die Konfrontation mit der Realität meist automatisch in Erleichterung, Überraschung oder Enttäuschung — Studierende erleben dabei oft alle drei Reaktionen:

Nicole (24) hat nach vier Monaten in Berlin erleichtert festgestellt, dass die Anonymität ihr tatsächlich ermöglicht, tun und lassen zu können, was sie möchte. Wie Julia (23) hatte sie sich auf das kulturelle Angebot der Stadt gefreut. Dabei wurden ihre Vorstellungen sogar übertroffen. Allerdings gebe es daran auch einen Haken: „Was mir fehlt, ist Zeit! Ich hätte gedacht, dass ich die ganzen Kulturangebote viel mehr wahrnehme.” Ihr Leben in Berlin hätte sie sich grundsätzlich viel ausschweifender vorgestellt: „Aber man muss ja trotzdem seinen Alltag bewältigen und geht doch seltener feiern als erwartet.“
Erleichterung hat vor allem Marco (27) erlebt, dessen Befürchtungen sich nicht bewahrheitet haben. Er konnte sogar der Covid-19-Pandemie dabei etwas Positives abgewinnen: „Corona und die Lockdowns zwangen mich, mich langsam in die Stadt einzufinden. Die Entschleunigung machte den Start einfacher.” Zuvor hatte er befürchtet, dass ihn zu viele soziale Aktivitäten erschlagen könnten. Vor allem die Sorge, dass die Kontakte in Berlin häufig oberflächlich sind, hat sich für ihn nicht bestätigt. Andersherum versteht er auch, dass viele Studierende Sorgen haben, in der Anonymität Berlins zu vereinsamen. Er habe zum Glück bisher einen anderen Eindruck gewinnen können: „Ich habe noch nie so unkompliziert Kontakte geknüpft wie hier.”

Dass das Studieren in Berlin neue Chancen bietet, betont Emily* (21): „Hier konnte ich ganz neue Dinge kennenlernen. Berlin ermöglicht mir, endlich in den Bereichen tätig zu sein, die mich interessieren: Innovation und Nachhaltigkeit.”
Erleichterung stellte sich auch bei Jörg (29) ein, für den sich nicht jedes Vorurteil bestätigte: „Die Stadt ist auch viel ruhiger und erholsamer als gedacht.”

Ein aus den Antworten gezeichnetes Stimmungsbild zeigt deutlich, dass sich bei vielen Studierenden nach anfänglicher Besorgnis Erleichterung einstellt. Wer dazu beiträgt, sind auch die Bewohner*innen Berlins: großstädtisch wie erwartet, aber das nicht nur auf extravagante Weise, sondern auf eine geerdete und unaufgeregte Art. Die Bewohner*innen der Stadt sind individuell und spannend, aber manchmal „auch einfach Normalos wie du und ich”, meint Emily (21).

Dass Berlin groß ist, lässt sich nicht leugnen. Einen Tipp dazu gibt Linda* (25), die anfangs Zweifel hatte, Berlin als ein richtiges Zuhause anzuerkennen: „Man muss nur den eigenen Wohlfühlort finden. Das kann ein bestimmter Kiez sein; das können aber auch tolle Menschen sein, die Berlin weniger grau und groß erscheinen lassen!“


*Namen von der Redaktion geändert

Dieser Text ist in der UnAufgefordert #259 zum Thema „Erwartungen“ im Februar 2022 erschienen.

Illustration: Lidia Brankovic