Es gibt viele Labels, um die eigene Geschlechtsidentität oder Sexualität zu beschreiben. Und trotz dieser Begriffsvielfalt scheint es einen kleinen gemeinsamen Nenner zu geben: queer. Was hat es damit auf sich? Von Erwartungen und Gefühle gegenüber einer Selbstbezeichnung.

Laute Musik übertönt die mit Stimmengewirr gefüllte Geräuschkulisse. Menschen sitzen in kleinen Gruppen zusammen. Die Wärme im Raum lässt die Kälte draußen vergessen: Manche tragen knappe Outfits, als ob es Sommer wäre. Die Stimmung wirkt vertraut und ausgelassen. Es ist Samstagabend in einer queeren Bar.

Beim Betreten sticht sofort der lange Bartresen hervor, über dem rote LED-Lichter flackern. Zuerst poppt +++ gay bar +++ und anschließend +++ queer bar +++ auf. Was nun? Die Person hinter dem Tresen erzählt mir, es sei eher eine queere als eine gay Bar. Man wolle Sichtbarkeit für alle Personen innerhalb der LGBTIQ-Community schaffen. Nicht nur für schwule Männer, an die klischeehaft gedacht werde, wenn im Deutschen das Wort gay genannt wird. Auch lesbische und trans Personen sollten hier einen Safer Space finden. Was für einen Unterschied macht also dieses kurze Wort queer?

„Viele wissen nicht, was es mit dem Begriff auf sich hat“

Eine Besucherin der Bar ist Rahel*. Sie sitzt auf der Fensterbank mit dem Rücken zu der Straße. Die Kälte draußen liefert für sie den Einstieg in ein Gespräch mit dem Nachbartisch. Ein Bein wärmt sie an der Heizung, das andere ist angewinkelt. Über ihre Sexualität spricht sie gelassen: Sie sei kein Fan von Labels. Aber queer treffe es noch am besten. „Für mich umfasst das Wort halt alles, was nicht Cis-Hetero ist.“ Trotzdem tut sie sich dabei schwer, ihre Sexualität zu definieren. Schließlich gebe es auch keine einheitliche Form der Heterosexualität. Begriffe wie bisexuell oder pansexuell lehnt sie ab. Sie seien ihr zu spezifisch. „Aber ich muss auch sagen, dass viele cisheterosexuelle Personen oft gar nicht wissen, was es genau damit auf sich hat, wenn ich sage, ich bin queer. Vielleicht weil das Wort aus dem Englischen kommt und im Deutschen noch nicht so etabliert ist.“

Dabei steht queer als Adjektiv sogar im Duden. Doch die Definition wirkt etwas unbeholfen: „Einer anderen als der heterosexuellen Geschlechtsidentität zugehörig sein“. Das ist eine missverständliche Zusammenführung von Geschlechtsidentität und Sexualität. Wie kann die Art und Weise, wie ich mich geschlechtlich identifiziere, heterosexuell sein?
Stattdessen wird der Begriff queer heutzutage eher als Sammelbegriff für Menschen verstanden, die sich nicht der Cishetero-Norm zugehörig fühlen. Ursprünglich galt der Begriff im Englischen als Beleidigung, um Menschen als seltsam oder eigenartig zu degradieren. Im Laufe der 80er- und 90er-Jahre eigneten sich insbesondere schwarze queere Menschen den Begriff als Selbstbezeichnung an, indem sie ihn positiv besetzten.

Queer sein – ein Politikum?

Jamie* sitzt Rahel gegenüber, mit dem Rücken zum Tresen. Jamies Verständnis von queer liegt eine politische Haltung zu Grunde: Es sei auch eine Form der Abgrenzung und ein Ausdruck, nicht in eine Schablone passen zu wollen. Als nicht-binäre Person ist für Jamie die Bezeichnung queer so wichtig, weil sie keine klaren Rückschlüsse auf Geschlechtsidentität oder Sexualität zulässt: „Wenn ich sage, ich bin queer, sagt das noch nichts darüber aus, wen ich begehre oder wie ich mich identifiziere.“

Jamie hat längere Zeit ein anderes Label genutzt. Wohl habe sich Jamie dabei nicht gefühlt. Es sei eher eine Zuschreibung von außen gewesen, die Jamie einfach übernommen habe. Queer zu sein, bedeute für Jamie immer auch ein Ausweichen von Fremdzuschreibungen. „Für mich ist es sehr wichtig, sich auch in der Geschlechtsidentität und Sexualität herauszufordern. Sich also die Frage zu stellen: Warum handle oder denke ich so? Verbirgt sich dahinter vielleicht eine Anleitung, die die Gesellschaft für mich vorbereitet hat und deren Regeln ich einfach verinnerlicht habe? Labels sind häufig sowohl in der Identität als auch im Begehren auf ein Geschlecht eingrenzend. Queer lässt da mehr Freiräume.“ Jamie würde sich wünschen, dass mehr Menschen ihre Sexualität und Geschlechtsidentität im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konventionen hinterfragen. Auch Personen, die sich bereits als queer verstehen.

Judith Butler, die wohl bekannteste Vertreter*in der Queer Theory, argumentiert dafür, queer nicht als feststehende Identität zu begreifen. Queer zu sein, heiße, selbstkritisch zu handeln, um sich möglicherweise neu positionieren zu können. Es sei demnach auch ein Hadern mit eigenen Bedürfnissen, die mit gesellschaftlichen Normen zu kollidieren scheinen. Das müsse sich nicht nur auf Fragen des Geschlechts oder der Sexualität beschränken. Weiter gedacht würde das also heißen, dass eine queere Community auch bestehende Strukturen innerhalb der Community ständig aufarbeiten muss. Es entsteht eine Verletzlichkeit, weil sich verinnerlichte Vorstellungen stetig bewusst gemacht und reflektiert werden müssen. Das macht queeres Handeln zu einem politischen Projekt.

„Raum für die Unsicherheit, die wir alle haben“

Rahel schätze ebenfalls die große Spannweite, die der Begriff queer ihr lässt. Dennoch begleitete sie oft das Gefühl, diesem Label nicht gerecht werden zu können. Sie finde es manchmal schwierig, sich queer zu nennen: „Ich denke, Labels sind vor allem dann wichtig, wenn Menschen auf eine Weise gezwungen sind, sich wegen irgendwelcher Normen positionieren zu müssen. Diesem Problem war ich aber eigentlich nie ausgesetzt.“ Sie fühle sich so unvorbelastet, erklärt Rahel, weswegen sie lieber anderen Menschen den Raum überlassen möchte, sich als queer zu identifizieren.

Queere Personen sind immer noch häufig marginalisiert. So geben beispielsweise 80 Prozent der queeren Jugendlichen an, bereits Diskriminierung auf Grund ihrer Sexualität oder geschlechtlichen Identität erlebt zu haben. Doch selbst unter queeren Menschen gibt es große Diskrepanzen, weil das Label unterschiedlichste Lebensrealitäten vereint. Viele Diskriminierungserfahrungen beschränken sich dabei nicht nur auf das Queersein, sondern umfassen ebenfalls Bereiche des Rassismus, der Behindertenfeindlichkeit oder des Sexismus. Deshalb lassen sich Diskriminierungen nicht immer auf eine Kategorie reduzieren. Queer als Begriff erzeugt die Illusion einer Homogenität, die es in dieser Form nicht gibt.

Was bedeutet also queer und wer entscheidet, was als queer gilt? Jamie wird bei dieser Frage ambivalent, denn für viele sei Queerness politische Realität. „Deswegen soll es kein fancy Modeaccessoire sein, mit dem Menschen sich schmücken können. Vor allem nicht für Unternehmen im Pride Month.“

Andererseits, räumt Jamie ein, bräuchten wir ein Bewusstsein dafür, dass sich das Queersein ganz unterschiedlich ausdrücken kann. Es ergebe keinen Sinn, hier ein Kriterium zu nennen. Jamie sieht die eigene Queerness eher in eigenen Handlungen anstatt als ein identitätsstiftendes Merkmal. Als Bruch mit der Norm durch das Spielen mit Geschlechterrollen zum Beispiel. Jamies Einschätzung nach sei es genau das, was viele queere Menschen gemeinsam hätten: Der Wunsch, für sich und die Mitmenschen die Freiheit zu schaffen, sich unabhängig von starren und einengenden Vorstellungen entfalten zu können.

Vielleicht beschreibt Rahel ihre Sexualität deswegen auch am liebsten in eigenen Worten, ohne sich auf Labels zu beziehen: „Dazu hat mich auch eine Freundin inspiriert. Sie hat mich vor einiger Zeit mal gefragt, ob ich mir in meiner Sexualität sicher bin. Das fand ich viel schöner als die Frage nach irgendwelchen Begriffen. Das lässt Raum für die Unsicherheit, die wir alle irgendwie manchmal haben – egal ob im Begehren oder in der Geschlechtsidentität.“


*Namen von der Redaktion geändert

Dieser Text ist in der UnAufgefordert #259 zum Thema „Erwartungen“ im Februar 2022 erschienen. 

Illustraion: Céline Bengi Bolkan