Im Kampf gegen Rechtsextremismus und seine Gewalt spielen antifaschistische und antirassistische Initiativen, Bündnisse und Gruppen in Deutschland eine entscheidende Rolle. Sie machen die Gefahr des Rechtsextremismus sichtbar, informieren und gedenken an rechtsextremistische Gewalt und leisten politische Aufklärungsarbeit – Aufgaben, denen die deutsche Politik oftmals nur unzureichend nachkommt. Die Gruppen „NSU-Watch”, der „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992“ und die „Initiative 9. Oktober Halle” haben ganz direkte Erwartungen an die Politik, die Gesellschaft und sich selbst.

„Nazis morden, der Staat macht mit, der NSU war nicht zu dritt!“ Vor fünf Jahren, ich war 15 Jahre alt, nahm ich an einer Anti-AfD-Demo in Berlin teil. Dort begegnete mir diese Parole zum ersten und nicht zum letzten Mal. Seitdem lässt mich das Thema Rechtsextremismus in Deutschland nicht mehr los. Ich fing an, mich näher mit dem Nationalsozialistischen Untergrund, kurz NSU, zu beschäftigen und war fassungslos.

Fassungslos von den kaltblütigen, rassistischen Morden, verübt von Rechtsextremist*innen – aber auch von der mangelhaften Aufklärung und Aufarbeitung der Mordserie durch die deutsche Politik und Justiz. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist. Ich war naiv und dachte nur aus meiner privilegierten Perspektive als nicht von Rassismus betroffene Person heraus. Heute sind meine Erwartungen an den Staat niedriger – und realistischer – nicht zuletzt dank der Arbeit von Initiativen, Bündnissen und Gruppen, die sich gegen rechtsextremen Terror engagieren. 

Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess 

Der NSU war eine rechtsterroristische Vereinigung, die von 2000 bis 2007 neun Menschen aus rassistischen Motiven und eine Polizistin ermordete sowie drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübte. Der Kern der Terrorvereinigung bestand aus den drei Jenaer Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Das Trio lebte seit 1998 bis zu seiner Selbstenttarnung am 4. November 2011, bei dem Mundlos und Böhnhardt Suizid begangen, im Untergrund. Nur wenige Tage nach der Selbstenttarnung stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Das war das Ende der größten rechtsterroristischen Mordserie seit der Wiedervereinigung – und der Anfang ihrer Aufklärung. Im Februar 2013 versprach die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel eine vollständige Aufklärung der Mordserie. Doch dieses Versprechen hat sie gebrochen.

Am 6. Mai 2013 begann der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Hauptangeklagte war Beate Zschäpe. Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, André Eminger und Carsten Schultze wurden als Unterstützer des NSU-Trios angeklagt. Fünf Jahre und 438 Verhandlungstage später fiel das Urteil. Zschäpe wurde wegen Mittäterschaft und Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung NSU sowie schwerer Brandstiftung zu lebenslanger Haft mit Feststellung der besonderen Schwere verurteilt. Die vier weiteren Angeklagten erhielten Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren. Im August 2021 wies der Bundesgerichtshof die Revisionen von Zschäpe, Wohlleben und Gerlach zurück und bestätigte die Urteile als rechtskräftig. Gegen das Urteil von zweieinhalb Jahren Haft für André Eminger, der als einer der engsten Unterstützer des NSU gilt, legten nicht nur Emingers Anwälte Revision ein, die einen Freispruch verlangten, sondern auch die Bundesanwaltschaft selbst. Sie forderte eine Strafe von zwölf Jahren. Im Dezember 2021 wies der Bundesgerichtshof die Revisionen zurück und bestätigte das milde Urteil gegen Eminger.

Auch zehn Jahre nach dem NSU: Die Liste der Unklarheiten ist lang

Die Urteile sind gefallen. Was bleibt, sind offene Fragen, Unklarheiten, Wut, Trauer und Unverständnis – vor allem bei den Anschlagsopfern sowie den Familien und Angehörigen der Ermordeten. Wer hat den NSU noch unterstützt? Wieso konnten die deutschen Sicherheitsbehörden, die doch seit den 1990er Jahren bis zu 40 V-Personen (Szenemitglieder, die Informationen an die Sicherheitsbehörden weitergeben, deren Zusammenarbeit aber geheim gehalten wird) im Umfeld des NSU einsetzten, diesen nicht verhindern? Was steht in den NSU-Akten, die von mehreren Verfassungsschutzämtern nicht nur bis heute zurückgehalten werden, sondern zu einem großen Teil bereits kurz nach der Selbstenttarnung des NSU vernichtet wurden? Wieso war der V-Person-Führer Andreas Temme vor Ort, als der 21-jährige Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Kasseler Internetcafé durch zwei Kopfschüsse ermordet wurde? All diese Fragen konnte der NSU-Prozess nicht beantworten. 

„Rechtem Terror müssen das Selbstbewusstsein und die Rückendeckung genommen werden“ 

Zu den Hintergründen zum NSU-Komplex recherchiert auch “NSU-Watch” bis heute. Das bundesweite antifaschistische Bündnis hat sich nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 lose zusammengefunden. Ab 2012/2013 intensivierte sich seine Arbeit, erzählt Caro Keller von “NSU-Watch”: „Wir haben beschlossen, die Aufarbeitung des NSU-Komplexes kritisch zu begleiten und zu beobachten. Wir haben den NSU-Prozess in München und diverse Untersuchungsausschüsse zum Thema besucht, dort mitgeschrieben und Protokolle und Berichte veröffentlicht. Gleichzeitig intervenieren wir mit unseren Analysen in die Diskurse zum NSU-Komplex und zu rechtem Terror und versuchen diese zu verändern und voran zu treiben, um für mehr Aufarbeitung und Konsequenzen zu kämpfen.“ 

Die Aufarbeitung von rechtem Terror trage aber die gesamte Gesellschaft. Jede*r, ob in Politik, Medien, Justiz oder anderswo könne dabei unterstützen, rechtem Terror das Selbstbewusstsein und die Rückendeckung zu nehmen: „Mit wem bin ich solidarisch und wessen Perspektive interessiert mich? Wem widerspreche ich (nicht)? Wessen Verantwortung blende ich beispielsweise mit der Erzählung über vermeintliche Einzeltäter*innen aus?“ „NSU-Watch” erwarte, dass sich jede*r Einzelne mit diesen Fragen konfrontiert. 

Heute befasst sich das Bündnis nach wie vor mit dem NSU-Komplex und arbeitet außerdem zu den Kontinuitäten rechten Terrors, insbesondere nach 1945, und zu aktuellen Entwicklungen wie den Angriffen aus der Szene der Corona-Leugner*innen. Bei der Bekämpfung rechter Ideologien, deren fortschreitende Normalisierung rechtem Terror den Rücken stärke, sei für das Bündnis die Perspektive der Betroffenen, Überlebenden und Angehörigen zentral: „Wir vernetzen uns mit ihnen solidarisch und wollen gemeinsam das Erinnern und eine solidarische Gesellschaft erkämpfen, in der rechter Terror verhindert und nicht ermöglicht wird“, so Keller. 

„Wir waren zu unserem eigenen Gedenken als Gäste eingeladen“ 

Solidarität mit den Betroffenen und Angehörigen erwarte auch Ibrahim Arslan. Arslan überlebte als 7-Jähriger die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992, bei dem seine Großmutter, seine Schwester und seine Cousine ihr Leben verloren. 30 Jahre nach dem Mordanschlag möchte Arslan vor allem seine Perspektive als Betroffener in den gesellschaftlichen Vordergrund rücken: „Ich versuche im Bildungsbereich zu intervenieren und mit Menschen, die ich auf der Straße treffe, über die Geschehnisse zu sprechen, um auf den Alltagsrassismus aufmerksam zu machen“, erzählt er. 

Im „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992“ schlossen sich die Betroffenen mit solidarischen Menschen zusammen, um gemeinsam an den Gedenkveranstaltungen in Mölln teilzunehmen. 2007 habe der Freundeskreis dann begonnen, sich bei den offiziellen Gedenkveranstaltungen einzumischen. Arslan erinnert sich: „Wir waren zu unserem eigenen Gedenken als Gäste eingeladen und hatten überhaupt kein Mitspracherecht. Wir haben festgestellt, dass wir Widerstand leisten müssen, um ein eigenes Gedenken zu etablieren.“

2013 veranstaltete die Gruppe zum ersten Mal die „Möllner Rede im Exil“, die seitdem jedes Jahr in verschiedenen Städten Deutschlands der Brandanschläge gedenkt. „Unsere Redebeiträge waren im staatlichen Gedenken nicht mehr erwünscht. Also gründeten wir unsere eigene Gedenkveranstaltung ‚Reclaim and Remember‘ – denn es war tatsächlich ein jahrelanger Kampf gegen die Institutionen, das Gedenken, das uns gehört, zurück zu erkämpfen“, erzählt Arslan. 

Solidarität mit den Betroffenen 

Die Gedenkkultur des Freundeskreises drückt dabei die Perspektive der Betroffenen aus: „Wir zeigen, dass diese Menschen, die Betroffenen und die Angehörigen und Überlebenden der Taten, keine Statisten sind, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen.“ Für die Gruppe sei es wichtig, sich mit den Menschen und ihren Geschichten zu solidarisieren und den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit den Betroffenen ins kollektive Bewusstsein zu holen. Dem Staat hingegen gehe es letztendlich nur um Imagepolitik, um einen „Kampf des Reinwaschens“, bei dem die Geschehnisse unter den Tisch gekehrt würden, indem jedes Jahr eine harmlosere Variante des Gedenkens gewählt würde. 

Erwartungen an die Politik hätten er und der Freundeskreis überhaupt keine, da Politiker*innen im Amt seien, die sie nicht ausgewählt hätten und die ihre Perspektive nicht repräsentieren: „Wir können von Politikern nichts erwarten, die das Gedenken, das Aufklären und das Erinnern nur als eine Amtsaufgabe sehen und nicht als eine politische Handlung, geschweige denn als eine Selbstverständlichkeit.“ Das größte institutionelle Problem sieht Arslan im deutschen Bildungssystem, in dem die Geschichte der Gastarbeiter*innen oder die Geschichte der Migration überhaupt nicht vorkomme: „Dieses fehlende Wissen legitimiert Rassismus. Die Politik muss Betroffenen wie mir die Möglichkeit geben, unsere Geschichten zu erzählen.” Es sei aber nicht die Aufgabe der Betroffenen gegen rechte und rassistische Gewalt vorzugehen, auch das müsse die Politik tun. 

Keine Erwartungen an staatliche Aufklärung und Aufarbeitung 

Das politische und staatliche Vorgehen gegen rechtsextreme Gewalt kritisiert auch die „Initiative 9. Oktober Halle”, die sich Anfang 2020, wenige Monate nach dem Anschlag gründete, bei dem der Rechtsextremist Stephan B. versuchte in eine Synagoge einzudringen, jedoch scheiterte und anschließend zwei Menschen erschoss. Die Initiative hat sich zur Aufgabe gemacht, eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem Anschlag zu leisten und diese öffentlich zu fordern: „Uns geht es darum, dass Menschen sich mit der Beschaffenheit unserer Gesellschaft auseinandersetzen, die die Radikalisierung des Täters ermöglicht hat, um sie verändern und der Ideologie des Täters entgegenwirken zu können“, sagt Lena von der Initiative.

Rechtsterroristische Anschläge in Deutschland vor dem 9. Oktober 2019, etwa der Anschlag 2016 in München oder die Taten des NSU, hätten gezeigt, dass von politischen Akteur*innen und staatlichen Behörden nicht zu erwarten sei, dass sie sich ernsthaft um Aufklärung und Aufarbeitung der Taten bemühen. Das würden mangelhafte polizeiliche Ermittlungen, ausbleibende politische Konsequenzen oder auch Verharmlosungen und Relativierungen der Taten durch die Politik zeigen. 

Die Rolle der Gesellschaft 

Damit sich ein Anschlag wie der von Halle nicht wiederhole, brauche es weitreichendere Veränderungen und mehr als Analysen und Aktionen zivilgesellschaftlicher Initiativen. Doch „von einer Gesellschaft, die keine Notwendigkeit erkennt, im Grunde ihrer Verfassung etwas zu ändern, um Ideologien wie denen des Attentäters entgegenzuwirken, können wir nicht viel erwarten“, sagt Lena. 

Mölln, Solingen, Lichtenhagen, der NSU, Halle, Hanau – die Liste rechtsextremer Morde in der Bundesrepublik ist lang. Sie darf nicht länger werden. Die Amadeu Antonio Stiftung zählt seit den 1990er Jahren 214 Opfer rechtsextremer Gewalt, und der „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992“ über 300 Opfer seit den 70er Jahren. Rassismus und Rechtsextremismus müssen konsequent zurückgewiesen werden – mit allen Mitteln. Die Erwartungen vieler, vor allem die der Betroffenen, sind niedrig – nicht zuletzt, weil sie immer wieder selbst ins Visier der Ermittlungsbehörden genommen werden. 

Das muss ein Ende haben. Wir müssen Angehörigen und Betroffenen zuhören, uns mit ihnen solidarisieren und gemeinsam den Kampf gegen rechte und rassistische Gewalt und Ideologien führen. Wir können nicht erwarten, dass das die Politik für uns übernimmt, denn das tut sie nicht. Wir müssen als Gesellschaft die Erwartungshaltung etablieren, Rechtsextremismus und Rassismus im Keim zu ersticken. Das sagt auch Ibrahim Arslan: „Wir müssen sensibel und aufgeweckt sein. Wir dürfen die Bühne nicht den Rassisten und Faschisten übergeben.“


Dieser Text ist in der UnAufgefordert #259 zum Thema „Erwartungen“ im Februar 2022 erschienen.

Foto: Robert Andreasch