Erwartungen in und an Freundschaften lösen Druck aus, zerstören Beziehungen und sind etwas Schlechtes. Das sind Assoziationen, die vielen im Zusammenhang „Erwartungen“ und „Freundschaft“ in den Kopf kommen. Doch sind Erwartungen nicht auch etwas ganz Normales? Hat nicht jede*r von uns bestimmte Vorstellungen von einer Freundschaft? Wie gehen wir damit um, wenn diese Erwartungen mit denen der anderen Person nicht übereinstimmen? Und wie entstehen überhaupt Erwartungen?
„Habe heute die Freundschaft mit Lene* beendet. Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. Diese Freundschaft hätte zu nicht mehr viel geführt, uns beide nur unglücklich gemacht. Dennoch – die Erinnerung ist eine starke Kraft. Es kann doch nicht alles falsch gewesen sein? Ich dachte wirklich: Jetzt hab’ ich sie gefunden, die ‚eine‛ beste Freundin für’s Leben.“
Dies ist ein Auszug aus meinem Tagebuch, datiert mit 28/09/2021. Das war der Tag, an dem ich eine Freundschaft beendete, von der ich knapp fünf Jahre lang gedacht habe, sie würde ewig bestehen bleiben, und die letztendlich aufgrund unvereinbarer Erwartungen auseinander ging.
Doch wie lassen sich Erwartungen in einem freundschaftlichen Kontext überhaupt definieren? Wie entstehen solche Erwartungen? Und habe ich meine Erwartungen an diese Freundschaft vielleicht einfach zu hoch gesetzt? Das sind Fragen, die mich seit diesem Bruch oft beschäftigen.
Die individuelle Frage nach den Bedürfnissen
Der Psychologe und Autor des Buches „Freundschaft. beginnen – verbessern – gestalten“, Dr. Wolfgang Krüger, erklärt, der Mensch wolle ähnliche Werte und Bedürfnisse haben wie seine Freund*innen: „Ich will mit Freunden erstmal gemeinsam lachen können und spüren, dass sie ähnliche Werte haben wie ich. Ich möchte, dass der andere eine ähnliche Hoffnung, eine ähnliche Bedürfnislage hat, was Nähe und was Autonomie anbetrifft. Dass er in einer ähnlichen Weise in der Lage ist, über Probleme zu reden. Ich möchte Freunde haben, die ähnliche Grundbedürfnisse haben [wie ich].“
Marie*, 24 und Studentin, sieht das etwas anders: „Es gibt Leute, die haben immer Stress mit irgendjemandem, weil sie ständig erwarten, dass sich nach ihren Wertvorstellungen verhalten wird. Wenn man ständig merkt, dass Freunde und Freundinnen die Erwartungen nicht erfüllen können, da denke ich mir, du machst dir das Leben viel einfacher, wenn du gar nichts von deinem Umfeld erwartest, weil ja auch nicht jede Freundin, jeder Freund die gleichen Bedürfnisse hat wie du selbst.“
Die Frage nach den Bedürfnissen scheint genauso essentiell wie individuell zu sein: Die einen suchen sich direkt Freund*innen mit ähnlichen Bedürfnissen, den anderen ist so etwas nicht wichtig oder sie teilen ihre Erwartungen unter den verschiedenen Freundschaften auf: „Man hat ja auch unterschiedliche Freunde, die unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen können. Also wenn ich jetzt ‘ne Freundin hab’, mit der ich vielleicht nicht so gut reden kann, aber die mein Bedürfnis nach Abenteuern und Party erfüllt, dann geh’ ich genau zu der, um das zu bekommen, aber dann hab’ ich auch andere Freundinnen, die mir die Tränen trocknen“, sagt Marie.
Von Herzen befreundet
Doch ist die Frage nach den Bedürfnissen vielleicht gar nicht unbedingt nur eine individuelle? Sondern auch eine Frage nach der unterschiedlichen Abstufungen innerhalb des Freundschaftsspektrums oder des „sozialen Dorfes“, wie Dr. Krüger es in seinem Buch beschreibt? Ist es möglich, Freundschaften zu haben, in denen alles miteinander geteilt wird, während andere Freundschaften eher an der Oberfläche bleiben? Und wenn das möglich ist, ist dann nicht doch eine gewisse Übereinstimmung über die grundsätzlichen Wünsche an diese Freundschaft vorauszusetzen?
Dr. Krüger trifft in Anlehnung an Aristoteles die Unterscheidung zwischen „Herzensfreundschaften“ und „Alltagsfreundschaften“. Dabei seien Herzensfreundschaften Freundschaften, in denen man sich verstanden fühle, in denen man über alles reden könne und in denen es eine absolute Verlässlichkeit gebe. Jetzt ist allerdings fraglich, ob das alles ganz ohne Erwartungen funktioniert, ob eine Verlässlichkeit zustande kommen kann, ohne dass ich erwarte, dass es eine solche gibt, und ob ich nicht automatisch von einer Herzensfreundschaft diese drei Parameter – Verständnis, Offenheit, Verlässlichkeit – erwarte.
Freundschaft als Tauschbeziehung?
Auch Lina*, 25-jährige Studentin aus Berlin, spricht über die Distinktion zwischen besten und guten Freundschaften: „Ich glaube, je besser die Freundschaft ist, desto höher sind meine Erwartungen. An meine beste Freundin hab’ ich andere Erwartungen als vielleicht an eine gute Freundin.“ Gleichzeitig beschreibt sie jedoch auch den Druck, den die Erwartungen anderer an sie auslösen können, vor allem in Bezug darauf, dass sie sich selbst regelmäßiger melden soll.
Dies war auch in meiner anfangs beschriebenen Freundschaft Thema. Ich habe mich sehr oft bei meiner Freundin gemeldet und hatte die Erwartung, dass sie im Gegenzug das gleiche tun würde, was sie auch tat. Allerdings hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass es sie massiv unter Druck gesetzt hat, sich so oft zu melden.
Doch wie entstehen solche Erwartungen überhaupt und welche Rolle spielen etwa die Medien dabei? Ich persönlich gebe vor allem Kultserien wie den „Gilmore Girls“ oder „Grey’s Anatomy“ Schuld an meinen hohen Erwartungen, da dort zum Teil eine sehr unrealistische Darstellung von Beziehungen reproduziert wird, wie etwa dass während des Sex pausiert wird, wenn die beste Freundin eine*n braucht. So setzen sich Kategorien wie „bff“ oder „soul mate“ in unseren Köpfen fest. Wann wir von einer durch zu hohe medial und gesellschaftlich geprägte Erwartungen bestimmten Freundschaft und wann nun von einer Herzensfreundschaft sprechen, lässt sich nicht pauschal beantworten. Vermutlich liegt die Beantwortung dieser Frage wieder im Individuellen.
Vom Ende der Freundschaft
Was ich aber aufgrund meiner eigenen Erfahrungen weiß, ist, dass Freundschaften manchmal auseinander gehen. Laut Dr. Krüger gehen Herzensfreundschaften um einiges seltener auseinander als Alltagsfreundschaften: „Herzensfreundschaften, in die wir so viel investiert haben, in denen wir über viele Dinge geredet, Erlebnisse geteilt haben, gehen sehr selten auseinander. Herzensfreundschaften haben eine Durchschnittsdauer von weit über 30 Jahren. Was auseinander geht, sind Alltagsfreundschaften, die doch etwas reservierter sind. Wir müssen akzeptieren, dass innerhalb von sieben Jahren 50 Prozent unserer Alltagsfreundschaften kaputt gehen.“
Nun kommt bei mir die Frage auf: Ist die von mir beschriebene Freundschaft eine in die Brüche gegangene Alltagsfreundschaft, obwohl sie die Intensität einer Herzensfreundschaft hatte? Oder war es der Beginn einer Herzensfreundschaft, die wider Erwarten nicht von Dauer war? Der Schmerz jedenfalls, den ich an diesem 28. September und noch einige Zeit danach verspürt habe, war enorm. Dr. Krüger sagt über den Begriff des Freundschaftskummers: „[…] den gibt es vor allem dann, wenn Sie eine sehr innige Beziehung haben […] wir haben das für den seltenen Fall, dass eine wie auch immer geartete Herzensfreundschaft auseinander geht. Bei den normalen Alltagsfreundschaften ist die Innigkeit begrenzt und wir neigen eher dazu, dass wir pragmatisch den anderen runterstufen. Da leiden wir nicht so stark drunter […]“
„Hi… können wir eventuell doch nochmal reden? Ich weiß, ich hab’ gesagt, ich möchte keinen Kontakt mehr und dieses Hin- und Her meinerseits tut mir auch leid… aber ich hatte jetzt mehr Zeit, nachzudenken und ich würde gern nochmal reden, wenn das geht…“ Das ist eine WhatsApp-Nachricht, die ich soeben – am 10. Dezember 2021 – an meine Freundin geschrieben habe. Wie sie reagiert, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ob sie überhaupt antwortet, weiß ich nicht. Aber vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren, vielleicht gibt es ja doch noch die Möglichkeit, einige Dinge zu klären.
*Namen von der Redaktion geändert
Dieser Text ist in der UnAufgefordert #259 zum Thema „Erwartungen“ im Februar 2022 erschienen.
Illustration: Lidia Brankovic