Eine Erwartung ist ein ambivalenter und abstrakter Zustand. In Paulina Czienskowskis Buch „Sich erinnern man selbst zu sein“ changiert die Protagonistin ständig zwischen ihrem Inneren und dem Außen. Die Berliner Autorin und Journalistin spricht mit der UnAuf darüber, warum Erwartungen nur schwer von dem Außen zu trennen sind und was Emotionen und Gefühle im weitesten Sinne mit einem zugefrorenen See gemeinsam haben. 

UnAuf: Die Anfangsszene in „Sich erinnern, man selbst zu sein“ beginnt an einem zugefrorenen See, in dessen Tiefen der Kern des Selbst sitzt. Wie bist du auf das Motiv des Sees gekommen?

Paulina Czienskowski: Bei dem zugefrorenen See geht es um die Eisschicht, unter der auch jene Emotionen verborgen liegen, die man vielleicht nicht so gerne fühlt, weil sie weh tun oder hässlich sind – dort lauern sie dann. An manchen Stellen kann man ja in einen gefrorenen See schauen, man sieht zwar nicht ganz genau, was da ist, aber man weiß genau, dass da was ist. Spürt es also irgendwie. Diese Eisschicht zeigt und verbirgt die Emotionen zugleich. Sie sind sichtbar, aber nicht greifbar. Das „Dem“, wie ich es nenne – also der Kern des eigenen Selbst – befindet sich in der Mitte des Sees und ich würde behaupten, dass es den meisten Menschen aus Sorge, einzubrechen, nicht gelingen will, zur Mitte des Sees zu kommen.

UnAuf: Wie hast du angefangen, dieses Buch zu schreiben?

Czienskowski: Am Anfang stand das Bild des Zwiegesprächs zwischen den verschiedenen Ichs, die im Buch zu Wort kommen und miteinander sowie übereinander reden. Das fand ich spannend zu beobachten, wie es sich liest, wenn man verschiedene Anteile einer Person aufschreibt. Ein Mensch ist ja nicht nur das oder das. Manchmal wollen sich die eigenen unterschiedlichen Stimmen gegenseitig zerstören im Kampf, der in einem stattfindet, oder zumindest mundtot machen. Manchmal versuchen sie, einander zu besänftigen, sich zu beruhigen. Diesen Konflikt zu dokumentieren, war der Anfang des Buchs. Und dann entwickelte sich als Rahmen die Metapher des gefrorenen Sees.

„Ich würde Erwartungen haben als einen ‚Wartezustand‛ beschreiben. Man ist passiv, nicht aktiv.“

UnAuf: In deinem Buch schreibst du immer wieder vom „Außen“ in Abgrenzung zum Ich, zum Selbst. Was hältst du in Bezug darauf von dem Begriff der Erwartung?

Czienskowski: Wenn ich über Erwartungen nachdenke, dann merke ich direkt, dass sie für mich eher negativ konnotiert sind. Vielleicht weil man sie nur enttäuschen kann? Ich würde Erwartungen als einen „Wartezustand“ beschreiben. Man ist passiv, nicht aktiv, erwartet etwas ganz Bestimmtes, einen Ausgang oder ein Gefühl in einer Situation, in der man aber vielleicht noch gar nicht ist. Deshalb ist es wohl ratsam, keine zu haben und im Moment selbst zu erfühlen, wie man was empfindet. Wenn ich noch tiefer gehe und mir klar mache, was Erwartungen in mir auslösen, stelle ich jedenfalls fest, dass sie mich nervös machen. Sie engen mich ein. Interessant ist, dass die meisten Erwartungen, die ich an mich oder eine Situation stelle, meistens durch das Außen beeinflusst sind. Erwartungen lassen mich also nicht so losgelöst, so frei und leicht sein, wie ich es gerne wäre.

UnAuf: Die Protagonistin deines Buches ist genervt, dass sie immer mit ihrem Kern konfrontiert wird, ihn aufsuchen soll, zu ihm gehen soll. Was passiert mit dem „Dem“, wenn es mit Erwartungen konfrontiert wird?

Czienskowski: Das „Dem“ beschreibt in meinem Buch ja das Innerste eines jeden Menschen. Es ist etwas Vulnerables, das man vielleicht nicht jedem gerne zeigt, das man auch selber nicht gerne erlebt, weil es mit Schwäche zu tun hat, mit Verletzlichkeit. Deshalb schützt man es, riegelt es ab. Auch die Protagonistin weigert sich oder traut sich nicht, in ihre Gefühlswelt abzutauchen, sich ihrem Selbst zu nähern, wie es so viele verlangen, weil nur das offiziell als wahrhaftig gilt. Es ist ja immer wieder die Rede vom „Kern“. Sie ärgert diese Erwartungshaltung vom Außen, wehrt sich dagegen und konstatiert, dass doch genauso das wahrhaftig und sie selbst ist, was sie tut, um ihre Emotionen zu schützen – ob „aus Angst, Selbstschutz, aus Pose“.

UnAuf: Stellen wir uns vor, wir lebten in einer erwartungslosen Gesellschaft — wären wir nicht alle unfassbar gleichgültig?

Czienskowski: Gleichgültigkeit bedeutet ja, dass einem alles egal ist. Vielleicht sprechen wir lieber von Offenheit? Es ist ja so, dass wenn ich zum Beispiel mit einer pessimistischen Erwartungshaltung an etwas rangehe oder mich selbst vorab degradiere, schwingt automatisch negative Energie mit. Das kann ja nichts werden und wenn doch, überrascht es einen positiv. Aber dann bin ich doch lieber gleich offen und spare mir all die Gedanken vorher, wie es eventuell werden könnte. Das nur als Versuch. Daraus können dann ganz frei und unmittelbar wieder Emotionen entstehen, die sich jeweils als positive oder negative Erkenntnisse abgrenzen, wodurch wir für uns persönlich bewusst machen können, was wir wann wieso empfinden. Wahrscheinlich ist es sogar unvermeidbar, dass wir aus Lebenserfahrungen bestimmte Erwartungen ableiten. Aber klar ist, dass sie verletzlich machen.

„Den Blick von Außen übernimmt man schnell und dieser kann damit zu dem werden, wie man auf sich selbst blickt.“

UnAuf: Wieso ist es so schwierig, keine Erwartungen zu haben?

Czienskowski: Am Ende finden wir alle ja in einem bereits bestehenden und sich entwickelnden Kontext statt. Vermutlich beginnt es doch schon mit seinen Eltern, die einen zeugen, in die Welt setzen und wiederum durch individuelle Erfahrungen bestimmte Vorstellungen davon haben, wie sie als Eltern sein wollen und auch wie ihr Kind zu sein hat. Dem ist man ungewollt ausgesetzt, auch wenn solche Wünsche, Erwartungen, Hoffnungen nicht unbedingt laut stattfinden, spürt man sie ja doch irgendwie. Das prägt so oder so, genau wie auch die Eltern durch ihre Leben geprägt wurden. Erwartungen lauern überall. In der Familie, unter Freud*innen, in der Schule oder Uni. Es gibt Erwartungen an eine Frau und Mutter, an den Mann von früher, an den von heute. Den Blick von Außen übernimmt man schnell und dieser kann damit zu dem werden, wie man auf sich selbst blickt.

UnAuf: Welche Erwartungen hast du als Autorin an dich selber?

Czienskowski: Ich möchte Menschen mit meinen Worten bzw. Erzählungen erreichen. Natürlich freue ich mich deshalb über Leser*innen, die berichten, meine Gedanken haben sie in irgendeiner Form weitergebracht oder sie haben ihre eigenen Gedanken plötzlich formulieren und ordnen können mithilfe meiner Überlegungen. Ich schreibe jedenfalls nicht nur, um mich selbst auszudrücken und zu sortieren, sondern auch um andere zu erreichen. Ich begreife mich als Teil des Ganzen und deshalb denke ich das Außen während des Schreibens indirekt mit. Das ist nicht immer heilsam, weil ich dadurch auch beginne, zu hadern. Häufig frage ich mich dann, wieso ich mir überhaupt den Raum nehme und glaube, Menschen würden lesen wollen, was ich mir ausdenke. Wenn ich dann drüber nachdenke, wirkt es fast schon überheblich, das zu tun. Ein typisch weibliches Zweifeln wird da laut. Ich habe das Gefühl, vom Ego eines männlichen Schriftstellers geht sowas nicht oder eher selten aus. Da gibt es dieses überromantisierte, stilisierte Bild vom männlichen Genie, das Dinge in die Welt gibt und dem es egal scheint, ob diese damit etwas anfangen kann oder nicht.

UnAuf: Und wie ist das bei deiner Protagonistin? Wie verträgt sie sich mit dem Außen?

Czienskowski: In meinem Buch changiert die Protagonistin ja ständig zwischen ihrem Inneren und dem Außen, sie grenzt sich ab und verschwindet dann doch wieder im Blick des Außens auf sich selbst. Es ist verworren und wie bei den Erwartungen nur schwer auseinanderzuhalten oder sogar unmöglich voneinander zu trennen. Da sind viele Versatzstücke, die am Ende versuchen, etwas Ganzes zu formulieren, etwas aus dem Innen und dem Außen. Aber dieses Ganze ist vage, weil es subjektiv bleibt. Wie ich mich sehe, ist nie, wie andere mich sehen.


Dieser Text ist in der UnAufgefordert #259 zum Thema „Erwartungen“ im Februar 2022 erschienen. 

Foto: Valentin Hansen