Der Jurist und Politikwissenschaftler Dr. Daniel Dettling ist Gründer der Denkfabrik Institut für Zukunftspolitik und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts. Mit UnAuf spricht er über die aktuelle deutsche Politik und die Chancen junger Menschen, etwas zu verändern.

UnAuf: Was machen Sie als Zukunftsforscher?

Dettling: Viel lesen, schreiben, die Welt beobachten, Veränderungen wahrnehmen und interpretieren. Unser Instrumentenkasten sind Megatrends. Wir haben am Institut zwölf Megatrends definiert, sehr breit angefangen von Mobilität und Gesundheit bis hin zu demographischem Wandel und Globalisierung. Uns interessieren außerdem die Schnittstellen der Megatrends und Gegentrends, die jeder Megatrend immanent hat.

Daniel Dettling
Daniel Dettling, Foto: Thomas Kierok

UnAuf: Inwieweit spielt dabei die Politik eine Rolle?

Dettling: Die Politik ist neben der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Kultur eine sehr wichtige Organisationsform, da sie Normen und Gesetze vorgibt. Außerdem übernimmt sie zunehmend die Aufgabe der Interaktion, der Verständigung, aber auch der Moderation bei Problemlösungen, bei denen es politischer Maßnahmen bedarf.

UnAuf: Wie wird in der aktuellen Politik mit dem Thema Zukunft umgegangen?

Dettling: Vor Corona war die Politik sehr gegenwartsfixiert. Da wurde höchstens in die nächsten zwei Jahre geschaut. Jetzt mit Corona merken wir, dass es ein neues Verhältnis zur Zukunft und zur Zeit gibt. Es gibt in der Politik und in der Gesellschaft eine neue Bereitschaft, sich mit längeren Zeiträumen auseinanderzusetzen. Der Klimaschutz ist ein wichtiges Beispiel. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimapaket macht deutlich, dass die Freiheit der nächsten Generation auch schon heute verteidigt werden muss. Um politische Reformen umzusetzen, müssen drei Faktoren zusammenkommen: Das öffentliche Bewusstsein, die wissenschaftliche Notwendigkeit und ein überparteilicher Konsens. Das haben wir jetzt beim Klimaschutz, was uns hoffen lässt, dass die Themen Zukunft, Verantwortung und Nachhaltigkeit auch gegenüber nächsten Generationen endlich angekommen sind.

UnAuf: Trotzdem werfen gerade junge Menschen Politiker*innen häufig vor, nicht
zukunftsorientiert zu handeln. Bei dem Klimapaket war abzusehen, dass Zielsetzungen bis 2030 nicht ausreichend sind. Woran liegt es, dass die Politik so wenig auf junge Menschen hört?

Dettling: Die Jugend braucht immer Bündnispartner, denn sie ist demographisch gesehen zu klein. Sie hat nicht die Mehrheit im Land. Stattdessen braucht es ein Generationenbündnis. Die Fridays-Generation ist eine pragmatische, aber trotzdem radikale Generation, die zeigt, dass Vertreter jüngerer Generationen noch viel bewegen können. Und obwohl die Fridays-Aktivisten auch nur eine Minderheit in ihrer Alterskohorte ausmachen, können sie aufgrund ihrer großen Unterstützung und Sympathie viel ausrichten. Das zeigen auch andere Bewegungen wie BlackLivesMatter oder MeToo. Das sind oft kleine Minderheiten, die einen gewissen Spill-Over-Effekt haben, dadurch andere Mehrheiten, Milieus oder Schichten erreichen und erfolgreich werden. Es braucht ein Überschwappen in die Mehrheiten hinein. Erst dann läuft das Wasser und wird eine Welle.

UnAuf: Der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen will in den Bundestag, Friedrich Merz wollte Kanzler werden. Viele junge Menschen fühlen sich nicht repräsentiert von unseren Abgeordneten. Braucht es mehr Vielfalt im Bundestag?

Dettling: Sie meinen Quoten, beispielsweise Jugendquoten?

UnAuf: Das ist eine Möglichkeit, die diskutiert wird.

Dettling: Das glaube ich nicht. Wir sind Männer und Frauen und Diverse, da macht auch eine Quote Sinn. Aber wo sind die Grenzen, wenn wir die Gesellschaft durchquotieren?

Statt einer Jugendquote plädiere ich für eine Herabsetzung des Wahlalters. Wer mit 14, 16 Jahren vor das Verfassungsgericht ziehen kann, kann auch wählen — auf allen Ebenen. Auch die Parteien müssen mehr dafür tun, junge Leute einzubeziehen. Jetzt ist die beste Zeit für junge Menschen, in die Parteien einzutreten. Da diese hoffnungslos überaltert sind, quasi demographische Friedhöfe, ist die Chance, Karriere zu machen noch nie so gut gewesen wie heute. Ich gehe davon aus, dass der nächste Bundestag jünger wird als je zuvor — Engagement zahlt sich aus.

Sorgen mache ich mir bei den Kommunen und Gemeinden, wo viel zu wenig junge Menschen nachkommen. Warum führt man nicht eine Art freiwilligen kommunalen „Demokratie-Dienst“ ein, um mehr Menschen freiwillig für Demokratie und kommunale Politik zu begeistern? Die Arbeit könnte mit Anreizen wie kostenlose ÖPNV-Tickets honoriert werden.

Wenn wir ehrlich sind, leben wir nur in unseren Bubbles und Parallelgesellschaften, jeder für sich — Studenten, Arbeitnehmer, Ausländer, Deutsche, Frauen und Männer. Wir brauchen mehr Orte und Möglichkeiten des Zusammenkommens — das läuft über die Vereine, Parteien, Organisationen und über das Ehrenamt. Davon brauchen wir viel mehr.

UnAuf: Würden sie zustimmen, dass die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung besteht, die durch die Pandemie noch verstärkt wurde?

Dettling: Die gesellschaftliche Spaltung gab es schon immer, denn sie ist der Normalzustand. Ich würde sogar zugespitzt sagen, dass sie zu begrüßen ist. Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird und in der es keine Spaltungstendenzen gibt, ist keine wirkliche Demokratie. Spannungen gehören dazu, wichtig ist jedoch der zivile Umgang mit ihnen. Wir haben letztes Jahr in den USA erlebt, dass es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt, wenn die Spaltung nicht mehr zu einem Dialog führt und abgebrochen wird.

Wir müssen die populistische Gefahr ernst nehmen, aber auch als Chance sehen. Statt in Panik zu verfallen, müssen wir uns anschauen, welche Kritikpunkte es gibt und was wir vielleicht vernachlässigt haben, beispielsweise abgehängte Regionen. Diskutieren wir über solche Themen, können wir die Spaltungstendenzen in den Griff kriegen.

UnAuf: Wie sieht es beim Thema Rechtsextremismus aus? Selbst Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat diesen zur aktuell größten innenpolitischen Gefahr Deutschlands erklärt. Wie sollen wir in Zukunft mit Rechtsextremen, der AfD oder Politikern wie Herrn Maaßen umgehen?

Dettling: Wer auf dem Boden der Verfassung steht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung und unsere Werte, beispielsweise Minderheitenschutz und geschichtliche Verantwortung, akzeptiert, ist Demokrat oder demokratische Partei. Alle anderen nicht. Bei der AfD gibt es einen Bereich, der auf dem Boden der Verfassung steht, einen Graubereich und einen größer werdenden Bereich, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Dann gibt es Einzelpersonen wie Maaßen oder Palmer, bei denen politisch diskutiert werden muss, ob ihre Aussagen noch tolerabel sind oder bereits eine rote Linie im Hinblick auf Rassismus, Antisemitismus oder Demokratiefeindlichkeit überschritten haben. Ich bin eher auf der Seite der Zuversichtlichen und glaube, dass sich auch hier bislang die Vernunft durchgesetzt hat. Wir sollten uns einen wichtigen juristischen Grundsatz auch politisch zu eigen machen — im Zweifel für den Angeklagten — und nicht im Zweifel verurteilen und diskreditieren.

UnAuf: Die nächste Bundestagswahl steht an. Was denken Sie als Zukunftsforscher, was wird im September und davor passieren?

Dettling: Das ist eine sehr gute Frage. Wir sind ja keine Weissager als Zukunftsforscher. Eine mögliche Gefahr des Wahlkampfs wird sein, dass andere Parteien eine Spaltung in die Klimafrage hineininterpretieren, vielleicht sogar strategisieren. Nach dem Motto: Wir sollen auf Reisen verzichten, während die Grünen in ihren großen Eigenheimen sitzen.

Ich glaube am Ende wird entscheidender sein, ob es eine Wechselstimmung gibt und die CDU in die Opposition muss oder ob die Wähler Angst vor etwas Neuem haben und auf Sicherheit und Kontinuität setzen. Es geht um eine gewisse Zukunftssicherheit, was sich komisch anhört, aber die Menschen wollen ja zumindest das Versprechen, dass sie sich auch noch in 10, 15 Jahren etwas leisten können und es den Kindern gut geht.

UnAuf: Gibt es ein Thema, das Ihnen Sorgen bereitet, wenn Sie in die Zukunft schauen?

Dettling: Grundsätzlich ist Zuversicht das oberste Gebot für uns Zukunftsforscher. Am meisten sorge ich mich dennoch um die Medien und die Presse. Wir müssen die Diskussion führen, was uns eine qualitative Presse und Medienlandschaft wert ist. Welche Geschäftsmodelle werden entstehen? Es liest beispielsweise fast keiner mehr gedruckte Zeitungen. Auch die Pandemie hat gezeigt, dass es auf qualitativen Journalismus ankommt. Medien sind fester Bestandteil unserer Demokratie und werden ein großes Thema der nächsten Jahre werden.


Alles Neu? Das haben sich die Redaktionen des Campusradio couchFM und der UnAufgefordert zum Wahljahr 2021 gefragt. Die beiden gemeinsam produzierten Fernsehsendungen zur Bundestagswahl und zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses gibt es bei Alex Berlin zu sehen.

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Foto: Charlota Blunarova/ unsplash.com