Wie bei erwachsenen Influencern kann auch bei Kidfluencern das gesamte Leben auf YouTube verfolgt werden. Der Unterschied: Nicht das Kind sondern die Eltern bestimmen über die Inhalte, die preisgegeben werden. Die Kinder sind oft innerfamiliärem Druck ausgeliefert, vor dem die Behörden es nicht schützen können. 

Mit fast eine Million Follower*innen ist Mileys Welt einer der erfolgreichsten Youtube-Kanäle eines Kidfluencers. Miley ist 11 Jahre alt, hat 922.000 Abonennten auf Youtube und steht seit 2014 vor der Kamera. Seitdem werden mehrmals wöchentlich, zeitweise fast täglich Videos hochgeladen. Auch wenn es sich offiziell um einen Familienkanal handelt, ist Miley in jedem Video und der Star, den die Leute sehen wollen.

Man könnte meinen, dass der Gesetzgeber die Sache im Blick hat und Kinder und Jugendliche unter der ihnen zumutbaren Leistung ihrer medialen Tätigkeit nachgehen – ähnlich wie bei Kindern die im Fernsehen auftreten. Der entscheidende Unterschied zwischen Kinderstars der Fernsehgeneration und Kindern, die in den heute gängigen Formaten wie Instagram, YouTube und TikTok agieren liegt darin, dass es weder einen offiziellen “Chef” gibt, noch einen Arbeitsvertrag oder irgendeine Möglichkeit der Behörden, auf die Tätigkeiten der Kinder Einfluss zu nehmen.

Die Eltern führen offiziell die Accounts, verhandeln mit Werbepartnern, stellen Equipment zur Verfügung und planen die Drehs. Es sind Werbeschaltungen in YouTube-Videos, Product Placement oder Affiliate-Links und Sponsoring-Verträge, die das Geld einbringen. Die Eltern sind es, die professionelle Kameras, Licht und Schnittprogramme finanzieren und in Stand halten und die Videos zurechtschneiden oder zumindest kontrollieren. Nicht das Kind, sondern die Eltern profitieren von Klicks und Views. Viele Eltern von erfolgreichen Kinder-Social-Media-Stars hängen ihren einstigen Job an den Nagel, um voll und ganz die Maschinerie YouTube und Co. aufrechtzuerhalten. Zudem besteht kein Einblick darin, ob das eingespielte Geld beispielsweise auf ein separates Konto des Kindes fließt oder den Eltern zugute kommt.

Das Kind ist innerfamiliärem Druck ausgeliefert. Denn sollte es aufhören wollen für Fotos und Videos zu posieren, würde die Familie wirtschaftliche Einbußen machen. Die Eltern sind die Chefs. Dadurch ist das Missbrauchspotenzial hoch.

Der Medienpädagoge Roland Rosenstock spricht mit Blick auf Kidfluencer von emotionalem Missbrauch: “Vor dem Hintergrund der völligen Abhängigkeit von seinen Eltern fügt sich das Kind, hat Angst, zu enttäuschen, spielt mit, dreht das nächste Video.” Es wird Druck ausgeübt, im Social-Media-Universum zu funktionieren, im Unterschied zum einfachen Ausüben eines Hobbys. Gerade in den sozialen Medien muss der Algorithmus bedient werden, um erfolgreich zu bleiben.

“Kidfluencer*innen arbeiten aufgrund der Anforderungen der Kooperationspartner und des Konformitätsdrucks der medialen Plattformen unter hohem Zeitdruck und auch unter Handlungs- und Konkurrenzdruck. Sie müssen sich zudem bereits in einem sehr jungen Alter mit ihrem medialen Ich auseinandersetzen, dürfen bestimmte Emotionen nicht zeigen, müssen regelmäßig für Aufnahmen zur Verfügung stehen und werden von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern bzw. den Fans auch auf der Straße erkannt”, schreiben Medienexperte Prof. Dr. Lutz Frühbrodt und Co-Autorin Annette Floren in ihrer Publikation Unboxing YouTube aus dem Jahr 2019 der Otto-Brenner-Stiftung.

Gut war die Entwicklung jedenfalls für Mileys Eltern. Laut einem Artikel der ZEIT aus dem Jahr 2018 konnten sie ihre Schulden abbezahlen, haben ihre Jobs aufgegeben und kümmern sich nun in Vollzeit um Mileys Kanal. Wie viel Zeit wirklich im Dreh eines Videos steckt, kann niemand genau beziffern.

Obwohl es ein generelles Defizit gibt, die bestehenden Regelungen auch bei YouTube-Stars umzusetzen, werden die Behörden trotzdem aktiv, vor allem dann, wenn der Bekanntheitsgrad mancher Kidfluencer*innen durch die Decke geht. So etwa bei Mileys Welt. Auf dem Account wurde anfangs fast täglich gepostet. Seit Anfang 2020 erscheinen laut offizieller Webseite, bedingt durch “noch strengere Regularien bezüglich Milleys erlaubter Arbeitszeiten vor der Kamera” weniger Videos.

So heißt es, dass bis Ende 2019 Videos mit rein dokumentarischem Charakter, also z.B. Urlaubsvideos, Parkbesuche, Videotagebücher, nicht zu Mileys genehmigungspflichtigen Drehzeiten zählten, da sie sich in den Alltag einfügen würden und Miley überwiegend passiv agiere. “Das hat sich nun leider geändert”. Begründet wurde dies von den zuständigen Ämtern mit Mileys wachsendem Bekanntheitsgrad. Dazu heißt es auf der Website: “Für uns etwas unverständlich, aber leider lässt sich das vorerst nicht ändern.” Seitdem gibt es nur noch sieben Videos pro Monat.

Ungewollte Internetstars

Folgt man der ein oder anderen “YouTube-Mama” in den sozialen Netzwerken wie Instagram und Youtube, fällt schnell auf, dass man als Fremde*r nach kurzer Zeit so gut wie jedes Detail über ihre Kinder erfährt. Nicht nur offensichtliche Dinge wie den Namen, die Stimme, Figur und Lieblingsklamotten. Auch die Schlafenszeit, Lieblingsspielzeug, Interaktion mit Geschwistern, schlechte Laune und intime Details wie Töpfchentraining, rabiates und egoistisches Verhalten seitens der Kinder und Wutanfälle werden gezeigt. Auch die leisen Töne, verunsicherte Blicke oder Reaktionen beispielsweise auf das neue Geschwisterkind oder den nicht artgerechten Umgang mit dem Haustier kann man sich im Internet ansehen.

Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob die Eltern die Gesichter der Kinder unkenntlich machen, wie es beispielsweise eine der ersten “YouTube-Mamas” Isabeau Kleinemeier mit ihren vier Kindern handhabt. Davon abgesehen, dass auch Wohnort und Schule öffentlich werden und die Kinder objektiv gefährdet werden, ist zudem problematisch, dass Kinder die Folgen ihrer Handlungen noch nicht umfassend abschätzen können und ob sie es später gutheißen werden, dass gerade die eben benannten kritischen Szenen einem Millionenpublikum zugänglich gemacht werden – von späteren Ärgernissen im Erwachsenenalter und pubertären Peinlichkeitsgefühlen abgesehen.

Der Jugendschutz.net-Bericht “Kinder als YouTube-Stars” aus dem Jahr 2019 fasst es zusammen: “Ein omnipräsentes Filmen innerhalb der Familie oder auch das Filmen in intimen Momenten verletzt das Recht von Kindern, sich zurückzuziehen, abzuschirmen und für sich allein zu sein. Das Recht von Kindern, selbst zu bestimmen bzw. herauszufinden, wer sie sind, wird verhindert, wenn einengende, die Identität festlegende Rollen von außen bestimmt werden.”

Psychische Konsequenzen

Es gibt viele Erwachsene, die mit sich und ihrem Social Media Auftritt hadern und unter Perfektionswahn und Kritik von außen leiden. Wie sich diese generelle Problematik auf Kinder auswirkt, welche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung noch nicht gefestigt sind, ist bislang wenig erforscht. Wisschenschaftler*innen wollen aufgrund mangelnden Untersuchungen, die den Einfluss des aktiven Betreibens eines Social-Media-Accounts zum Inhalt haben, keine konkreten Aussagen treffen. Die 12-jährige Kidfluencerin Ilia sagt über ihr Auftreten vor der YouTube-Kamera: “Ich streng mich schon ein bisschen mehr an [..] also ich streng mich immer an, aber da schau ich auch ob alles gut ist, damit das alles perfekt ist.”

Die Psychologin Dr. Sue Varma sagt dazu: “Bei Kindern, die Social-Media-Stars sind, trifft der soziale Druck, ein Kind im digitalen Zeitalter zu sein, damit zusammen, ein Kinderstar zu sein.” Demnach sei es mittlerweile bekannt, dass Kinderstars später eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen würden, an Angststörungen und Depressionen zu erkranken. Das liege unter anderem daran, dass ihr Selbstwertgefühl an Bestätigung von außen, an Karriere und Erfolg geknüpft ist, so Varma. Social Media verhalte sich wie eine Sucht.

“Jedes Like wirkt wie eine positive Verstärkung im Sinne der operanten Konditionierung. Das Like der anderen kann als eine soziale Verstärkung gesehen werden und führt zur Ausschüttung von Dopamin in unserem Belohnungszentrum (mesolimbischen System) im Mittelhirn. In der Folge fühlen wir uns zufrieden und glücklich, woraus ein Streben (Motivation) erwächst nach mehr desselben”, sagt der Psychologe Dr. Niko Hüllemann, der als Therapeut in München mit Kindern und Jugendlichen arbeitet.

Laut Hüllemann ist das Besondere bei Kindern, dass sie in jungen Jahren noch keine Bewältigungsstrategien entwickelt haben, um mit Niederlagen umzugehen. Im Gegensatz zu Erwachsenen fallen einem als junger Mensch die Introspektionsfähigkeit, Selbstregulation in Form von Reaktionsverzögerung, Bedürfnisaufschub oder -verzicht noch viel schwerer. Das kann fatale Auswirkungen haben, über die sich momentan nur spekulieren lässt.

“In meiner psychotherapeutischen Praxis sehe ich einen deutlichen Anstieg an Selbstwertproblemen und Adoleszenten- bzw. Identitätskrisen. Diese manifestieren sich reaktiv in Form von Ängsten, zwanghaften Denk- Verhaltensweisen, depressiven Episoden, Sozialverhaltensproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten und Essstörungen.” Weiter sagt er, dass auch wenn zu Beginn niemand daran denkt, die unreflektierte Nutzung von sozialen Medien auch einen gewissen Beitrag zum aktuellen Leid beisteuert.

Auch Psychologin Varma zeigt sich besorgt über die aktuelle Entwicklung der sogenannten Kidfluencer*innen: “Beim Kidfluencing handelt es sich um ein Familienbusiness und das Kind ist in dem Fall das Verkaufsobjekt. Wo hört das auf? Es ist ein 24-Stunden-Job und ich frage mich, ob es den Eltern möglich ist, das zu regulieren, wenn sie finanziell Profit daraus schlagen. Eltern sind eigentlich dazu da, ihre Kinder zu beschützen.”