Aufbrechen, Ankommen, Mobilität, Migration – es sind diese flüchtigen Themen, die die Kurzfilme des Europe-Unlimited-Filmfestivals zu fassen versuchen. Junge Filmemacher zeigten Mitte November in der Deutschen Kinemathek satirische, aber auch verstörende Bilder aus und auf Europa. Ausgeschrieben wurde der Wettbewerb von einer Institution, die auf den ersten Blick aber gar nicht mit Filmförderung assoziiert wird.

„Europa ist weit mehr als Straßburg und Brüssel, als Wirtschafts- und Währungsunion. Es ist ein Kulturraum, der fast jeden Tag neu erfunden und definiert wird“, sagt Günther Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Die Akademie wählte „Zukunftsort: Europa“ als ihr Jahresthema und begegnet dem nicht bloß mit wissenschaftlicher, sonder auch mit künstlerischer Analyse.

Die BBAW schrieb zum ersten Mal zum Jahresthema einen Filmwettbewerb aus. Nach dem Aufruf im Februar sind 350 Einsendungen der BBAW zugegangen, ein Dutzend wurde vergangene Woche präsentiert. „Im Titel Europe Unlimited kommt die geographische Unschärfe Europas zum Ausdruck“, sagte Stock in seinem Grußwort.

In vier Kategorien – grenzenlos, zeitlos, lieblos und allein – zeigte die BBAW die Einsendungen. Magdalena Nowicka, Sozialwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin, führte in die Kategorien ein. „Wo der Wissenschaft die Worte fehlen, antworten die Filme“, sagte sie, „die Filme vermitteln uns, was es bedeutet in Europa zu leben.“

Die Schwedin Maja Kekonius, Absolventin der Göteborger Filmakademie, versucht dieses Leben in „L’Europe Moderne“ greifbar zu machen. Kekonius lebte drei Jahre in Spanien, war in ihren eigenen Augen dort fremd, aber keine Migrantin. Es sei ihr möglich gewesen, Grenzen schmerzlos zu überqueren, sagte sie nach der Filmvorführung im Gespräch auf dem Podium. Darauf hat die BBAW neben Filmemachern auch Wissenschaftler geladen: Matthias Christen, Migrationsforscher aus Bayreuth, Stephan Dünnwald, Ethnologe aus Göttingen und Filmemacherin Kekonius diskutierten unter Moderation von Anna Henckel-Donnersmarck über die ersten drei Filme unter dem Stichwort grenzenlos.

„L’Europe Moderne“ eröffnet eine Schere zwischen Migration und Mobilität. Eine junge Schwedin kommt mit dem Flugzeug in Marseille an. Sie rastet an sonnigen Felsen und sucht den Hafen auf – den Ort, wo Einheimische, Touristen und Migranten durchreisen. Im angrenzenden Viertel begegnet der Schwedin die für Hafenstädte typische Offenheit.

Sie folgt einem Jugendlichen, vielleicht 15 und Marokkaner oder Algerier in eine Bar, es läuft Fußball. Sie spielen Billard, rauchen, der Jugendliche fragt, ob sie ihn nicht heiraten wolle. Sie scherzen, doch ein bisschen Ernst ist doch dabei: Manchmal scheint ein Aufstieg – geographisch und gesellschaftlich – bloß mittels einer Zweckheirat möglich. Anna Henckel-Donnersmarck sah in diesem Film, speziell dieser Szene, viel physische Kommunikation statt Sprache, Stephan Dünnwald zog zur Erklärung den Soziologen Zygmut Bauman heran: „Der Fremde ist weder Freund noch Feind.“

Gar nicht erst in der Fremde an kommt das Rentnerpaar des zweiten Filmes: Jean und Maryse besuchen das Visacenter des fiktiven Staates Lemuria, um für die Hochzeit ihres Sohnes mit einer Einheimischen einreisen zu dürfen. „A trip to Lemuria“ ist ein satirischer deutsch-französischer Kurzfilm von Pierre Marie und Braye Weppe. Jean und Maryse sind mit dem Fotoautomaten überfordert, ihren Formularen mangelt es an einigen Millimetern Rand und die Einladung ihres Sohnes ist nicht gültig, weil Jean und Maryse nicht verheiratet sind.

„A trip to Lemuria“ ist eine herrliche Persiflage auf die Visacenter europäischer Länder, die in den letzten Jahren immer kritischer geworden sind. Die EU-Einwanderungspolitik beginnt schon weit vor der Außengrenze – mit einem Zusammenspiel aus Technik, Biometrik und Personen. Personen, nicht Individuen: Die Sachbearbeiterin Helena heißt eigentlich Sofie. „Visastellen sind die allergrößte Hürde“, sagt Wissenschaftler Dünnwald, „wer die nicht nimmt muss übers Mittelmeer.“

Den Weg über das Meer suchen auch die Protagonisten der Kurzdoku „Hellas Hell“, dem dritten Film des Forums „Grenzenlos“. Eris aus dem Sudan hockt auf dem nassen Boden und fächert mit einem Pappteller ein Feuer an. „I am surprised – is this Europe? This is not Europe.“ Griechenland, in der Antike Europas Wiege, soll nicht zu Europa gehören? Wenn Europa ein sicherer Ort ist, mit Perspektive und Schutz von Menschenrechten, dann gehört das Griechenland in der Hafenstadt Igoumenitsa nicht mehr zu Europa. Wenn sich deren Einwohner nicht mit Essensspenden den Flüchtlingen solidarisch zeigen, leben diese aus dem Müll. Sie versuchen, versteckt in Lastkraftwagen oder Fährschiffen nach Italien überzusetzen. Die Kontrollen sind rigoros, auf Fähren gibt es Kabinen für aufgegriffene Flüchtlinge.

Romina Peñate zeigt in ihrer Dokumentation die ungeschönte Meinung von Flüchtlingen, Aktivisten und eines Polizeichefs aus der Flüchtlingshölle Griechenland, bedient sich aber filmischer Elemente wie einem Scanner, der einen Lastwagen durchleuchtet und dem Zuschauer auf einem Röntgenbild die menschliche Fracht zeigt. Das ist schwere Kost, die Fragen aufwirft: Welches – nicht bloß geographische – Europa-Verständnis haben wir? Welches Europa-Bild vermitteln wir in Drittstaaten? Wie gestalten wir unsere Grenzen?

Fragen, die das Europe-Unlimted-Filmfestival gut aufgreifen und die Wissenschaftler und die BBAW zu beantworten versuchen können. Bloß kann die Antwort nicht so einfach und amüsant sein, wie die von Jean in „A trip to Lemuria“: Im Tarantino-Style zündet sich Jean drei Zigaretten an, löst den Rauchmelder aus und vertreibt die Bürokraten und Bitsteller aus dem Visacenter. Jean zu Maryse: „Jetzt gehen wir nach Hause.“ Nach Hause gehen – so einfach ist das in Europa aber nicht.

Einige Kurzfilme, darunter auch “Hellas Hell”, sind auf der Website des Europe-Unlimited-Filmfestivals zu sehen.