Laut dem Fahrradklima-Test des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) fühlen sich mehr als 80 Prozent der Fahrradfahrer*innen im Berliner Verkehr nach wie vor nicht sicher. 27 Kilometer an Pop-Up-Radwegen hält Peter Fuchs vom Bündnis „Berliner Straßen für alle“ für einen tollen Anfang, für mehr aber auch nicht. Zum Globalen Klimastreik ertönten in der gesamten Stadt die Fahrradklingeln – eine Kampfansage an das Auto und seine Vorherrschaft. 

Peter Fuchs steht auf der zubetonierten Wiese vor dem Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur. Dass in seiner Familie niemand ein Auto besitzt, macht ihn stolz. Muss er doch einmal mehr transportieren, leiht er sich ein Lastenrad aus und tritt kräftig in Pedale. Am 19. März 2021 fährt Fuchs innerhalb der Fahrraddemo „Ohne Mobilitätswende keine Klimagerechtigkeit“ mit seinem Lastenrad von der Baustelle der A100 zum Bundesverkehrsministerium. Die Polizei, die ihn in Vollmontur schon am Ziel erwartet, ist zufrieden mit ihm: Keine Überschreitungen der Corona-Auflagen, keine Unfälle, keine Beschwerden. So glatt läuft es im Straßenverkehr nicht immer ab. Als ein Sprecher des Bündnisses „Berliner Straßen für alle“ sieht Fuchs im Autoverkehr ein Gerechtigkeitsproblem. Autos würden Flächen blockieren, den sicheren Aufenthalt in der Stadt gefährden und Rohstoffe verbrauchen. 

„Lärm und Emissionen belasten proportional die Schwächsten am stärksten“, sagt Fuchs. Antje Heinrich, Sprecherin des Vereins „Changing Cities“, bewertet die Lage auf den Berliner Straßen ähnlich. Für sie ist der Autoverkehr vor allem eine Frage nach sozialer aber auch nach Geschlechtergerechtigkeit. „Statistisch gesehen besitzen mehr Männer ein Auto, mit welchem sie überwiegend von A nach B fahren. Da Frauen noch heute den größten Teil der Care-Arbeit leisten, bewegen sie sich meist in Wegeketten – von der Schule des Kindes, zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Oma, zurück nach Hause – und das dank der kurzen Wege häufiger mit dem Rad oder zu Fuß“, erklärt Heinrich. Doch sei die Stadt Berlin gerade auf jenen männlichen Berufsverkehr ausgelegt.

Im vergangenen Jahr starben deutlich mehr Radfahrer*innen im Straßenverkehr – Berliner*innen vermieden es aus Angst vor Ansteckung mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, wie Heinrich annimmt. Auch 2021 hielt „Changing Cities“ schon Mahnwachen ab – zwei Radfahrerinnen kamen in Unfällen mit abbiegenden LKWs ums Leben. Für die Sprecherin des Vereins liegt es nicht nur an der Einführung eines Rechtsabbiegeassistenten, solche Unfälle zu vermeiden, sondern auch am Schaffen von sicheren Kreuzungen. Mit dem 2018 in Kraft tretenden Mobilitätsgesetz sollten 25 sichere Kreuzungen pro Jahr eingerichtet werden, bislang ist jedoch keine einzige entstanden. „Das Problem dabei ist nicht das Geld, sondern die fehlenden Ressourcen und Kompetenzen in der Verwaltung“, legt Heinrich offen. Im zweistufigen System von Bezirk und Senat würden die Instanzen die Verantwortung dafür hin und her schieben. Abseits des politischen Willens müssten viel mehr Stellen zum Umsatz des Mobilitätsgesetz geschaffen werden. 

Mit Gesetzen zur Mobilität ist es so eine Sache. Eigentlich müsste laut Eva Rechsteiner, Aktivistin im Kollektiv „Roden war gestern“, Infrastrukturplanung unmittelbar Klimaplanung hießen. Doch seien seit 2007 die CO2-Emissionen fortwährend gestiegen. Mit zittrigen Händen malt sie die letzten Buchstaben auf ein weißes Banner. Mitten im März ist sie in eine dicke Winterjacke gehüllt. Die Kälte kann ihr nichts anhaben, die vielen Monate im Dannenröder Forst haben die Aktivistin abgehärtet. 850 Kilometer an Autobahnen sieht der Bundesverkehrswegeplan deutschlandweit vor. „Mit Blick auf den Ausbau eines Fahrradnetzes werden immer wieder neue Projekte aus dem Boden gestampft, zur Umstrukturierung oder Erneuerung kommt es selten“, so Rechsteiner. Um den Dialog zur Mobilitätswende anzukurbeln, müssten Verkehrsteilnehmer*innen einerseits für Umweltfragen sensibilisiert werden, andererseits aber auch Anreize gesetzt werden, wie beispielsweise ein kostenloser Verleih von Lastenrädern. 

Das Gerechtigkeitsproblem des Autoverkehrs

Nicht nur Rechsteiner ist als Aktivistin am Tag des Globalen Klimastreiks vor Ort. Im Park gegenüber des Bundesverkehrsministeriums haben sich mittlerweile auch Aktivist*innen der Klimabewegung „Fridays For Future“ (FFF) eingefunden. Eine von ihnen ist Carla Reemtsma, Pressesprecherin des Berliner Büros und nach der Fahrraddemo etwas außer Atem. Unter dem Motto #NoMoreEmptyPromises wollen sie Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Politiker*innen seit 30 Jahren falsche Versprechungen machen würden. „Auf kommunaler Ebene Fahrradwege zu schaffen, ist immer etwas Positives, auf nationaler Ebene gehen diese Schritte jedoch nicht weit genug“, plädiert Reemtsma. Die 1,5 Millionen Beschäftigten in der Autoindustrie dürften bei der Mobilitätswende nicht vergessen werden, dennoch müsse für eine lebenswerte Stadt das Auto unmittelbar zurückgedrängt werden. Mit Hilfe der dezentralen Fahrraddemos wollen FFF dem Automobil wieder einmal den Kampf ansagen. 

Die Verteilungsverhältnisse im Straßenverkehr sind aus aktivistischer Sicht auch im Hinblick auf den verbrauchten Platz nicht gerade fair. „Ein Parkplatz umfasst 12 Quadratmeter. 12 Quadratmeter für ein Individuum sind eine extreme Ungerechtigkeit gegenüber denen, die kein Auto besitzen“, schlussfolgert Heinrich. Momentan könne Berlin kaum mit seiner Aufenthaltsqualität punkten, denn die Straßen seien zu Transitorten geworden – keine Bänke, kein Grün, das zum Verweilen einlädt. Gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums, das heißt gegen die Parkplatzkultur, will auch Fuchs vorgehen. Mit politischem Willen seien Entsiegelung des Bodens und Umstrukturierung der Flächen technisch leicht umzusetzen. Dank der Mühen des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg entstanden dort im vergangenen Jahr 20 Kilometer an Pop-up-Radwege. Womöglich der Grund, warum Berlin es im Fahrradklima-Test des ADFC sogar auf Platz acht schaffte.