Die Schankwirtschaft Zur Mühle wird von den Bewohner*innen des Ortes Lieberose auch liebevoll Knacke genannt. Kein Ort zeigt das Dorfsterben in Brandenburg eindrücklicher. Wer zu Knacke kommt, macht einen Kurztrip dreißig Jahre in die Vergangenheit. Von da an schafft man es gerade so in die Gegenwart. Eine Zukunft scheint nicht in Sicht

Die Wirtin Erika sitzt an einem runden Tisch neben dem Tresen und löst Kreuzworträtsel. Knacke, so nannten die Bewohner immer Erikas Mann, der das Lokal bis zu seinem Tod führte. Sie machte dann weiter, einfach so. Wie dieser Wechsel stattgefunden hat, weiß keiner so richtig. Der Laden läuft jedenfalls. Knacke heißt die Kneipe auch, weil man hier eine Knackwurst mit Toastdreiecken und Gewürzgurken serviert bekommt. Eh Erika die Knackwurst serviert, kann aber schon mal eine Stunde vergehen und man hat die Wurst über dem Bierglas bereits wieder vergessen. 

Aus meiner Jugend ist mir der Ort noch bekannt. Hier konnten wir mit 16 Jahren das erste Bier kaufen, wir verstauten es verstohlen in unseren Rucksäcken. Das Licht fiel von der Straße durch die rauchgelben Schaufenster. Das Haus konservierte wie eine Zeitkapsel den DDR-Linoleum-Schick. Über der Kunstholzvertäfelung hängen noch die verstaubten Wimpel und Emaille-Platten längst geschlossener Brauereien. 

Seit dem Mauerfall hat sich hier scheinbar nichts geändert. Alles ist ein wenig vergilbt. Eine Dartscheibe hängt gegenüber vom Tresen und in der hinteren Hälfte des Lokals steht ein Billardtisch mit einer dunkelgrünen Lampe, von der unzählige Kordeln runterhängen. Der blaue Tabakqualm meandert in dünnen Fäden durch den Raum und aus einer Ecke kommentiert der Sport1-Moderator aus dem Flachbildfernseher. Man muss schon sehr viel Optimismus mitbringen, glaubt man diesen Ort in dreißig Jahren noch vorzufinden. 

Hier wird noch Tach gesagt

In der Regel grüßt hier jede*r, der reinkommt, mit den Worten „Tach Erika!“. Die meisten Gäste klopfen auf den Tresen. Das Funierholz der Theke hat sich durch das über Jahre vergossene Bier verzogen. Die Wandschränke hinter dem Tresen sind mindestens hundert Jahre alt und auf den senfgelben Butzenscheiben kleben Kümmerling- und Feigling-Sticker. Auf einem Schild steht „Lieber Korn im Blut als Stroh im Kopf.“ 

Wenn Erika zum Tresen geht, reicht ihr Kopf genau über die Kante. „Na Mensch Jungs, heute Ausgang?“, fragt sie, als sie uns sieht. Vor sich hat sie ihre Zettelwirtschaft. Das sind herausgerissene Blätter aus einem Bitburger-Notizblock. Darauf stehen die Namen der Gäste und darunter die Striche für die Getränke. Sie kennt jeden mit Namen. Ihre Strichliste täuscht sie nie. Wenn sie einen Preis nicht weiß, setzt sie sich ihre Lesebrille auf und schaut auf einer laminierten Preisliste nach. Anschreiben ist möglich, wenn sie zum Namen auch ein Gesicht hat. Oft schaut sie dann kurz, ob jeder noch was in seinem Glas hat, beugt sich vor und geht dann wieder an den runden Tisch. 

Bis vor dreißig Jahren soll bei Knacke richtig was losgewesen sein. Die Leute sollen an den Tischen getanzt haben. Samstags war immer Musik. Dreißig Jahre später ist die Dorfkneipe zum Indikator dafür geworden, wer entweder gestorben, weggezogen oder hiergeblieben ist. Im neunzig Kilometer entfernten Berlin würde man aus diesem Ort eine museale Szenekneipe zaubern. Statt Gorbatschow gäbe es Moscow Mule. 

Hier „in der Heimat“ wird man zumindest neugierig beäugt, wenn man sich als Tourist*in an diesen Ort verirrt. Einer sitzt neben uns, schaut in den Saal und umfasst sein Glas wie einen Massageball. Bis auf ihn trägt hier keiner einen marineblauen Wollkragenpullover. Mein ehemaliger Schulbusfahrer hat ihn mitgebracht. „Sowas gibt’s bei euch im Westen nicht, was?“, sagt der, lacht und haut dem „Wessi“ auf den Rücken. Nach einem Bier ziehen sie weiter. 

Einen im Saal erkenne ich sofort. Hans aus der Grundschule. Wir nicken uns kurz zu. Er sitzt im grünen CAT-Pullover an einem runden Tisch neben dem Tresen. Er trinkt sein Bier, greift ab und an die Dose mit den Erdnüssen und raucht eine Zigarette. Erika setzt sich dazu, wenn nichts los ist. Ihre randlose Lesebrille hängt an einer Kette. Immer wenn sie ein Wort nicht lesen kann, hält sie sich die Brille vor das Gesicht und zählt mit dem Kugelschreiber die Kästchen ihres Kreuzworträtsels. 

Erika nickt den neuen Gästen immer erst zu, bevor sie sich von ihrem runden Tisch zum Zapfhahn bewegt. Sie humpelt auf dem rechten Bein. Ehe ein Bier bei ihr fertig ist, kann es dauern – wie mit der Knackwurst. Manchmal wird dem Bierfass zu viel Kohlensäure zugeführt. Erika regelt da nicht nach. Lieber füllt sie vier Gläser mit dem überschüssigen Schaum, bevor sie dann das Fünfte serviert. Sie vermeidet jede schnelle Bewegung. 

Erika wird von vielen im Dorf auch Goldmarie genannt. Das hat sich so eingebürgert. Sie redet mit leiser Stimme. Knacke führe sie als Inhaberin seit 1990. „Bis zu die Euro-Zeiten liefs ganz gut“, sagt sie. Seitdem sind immer weniger Gäste gekommen. Die Highlights beschränken sich auf das Maibaum-Aufstellen und den alljährlichen Weihnachtsmarkt. Bei den Öffnungszeiten richtet sie sich ganz nach ihren Stammkund*innen. Sowieso hätte sie das Geschäft längst geschlossen. „Ach, wegen die jungen Leute macht das hier doch Spaß. Ist halt auch eine Beschäftigung.“ Sie macht halt noch, so lange sie kann. Als Witwe gehört ihr das Haus und somit auch die Kneipe. Sie braucht sich vor Niemandem zu rechtfertigen. 

Um wach zu bleiben, trinkt sie Filterkaffee aus einer dünnen Porzellantasse. Die Kaffeemaschine steht auf einer schmalen Treppe hinter dem Tresen neben den Bier- und Cola-Kästen. „Lasst mir wenigstens einen Platz da frei“, ruft sie den Männern an ihrem Tisch zu. Unter ihnen mein Grundschulkamerad Hans – wir schauen uns an. Von hinten greift jemand über meine Schulter und schnappt sich die Dartpfeile vom Tresen. 

Kneipe, Kiosk, zweites Zuhause

Jeder kann bei Erika Runden schmeißen. Das Glas Bier gibt es für 1,80 Euro, sodass man beim Bestellen gar nicht mehr darüber nachdenkt. Hubertustropfen, Feigling, Kümmerling und Jägermeister kosten jeweils einen Euro. „DDR-Preise“, raunen die älteren Männer und ziehen die Augenbrauen hoch, als sei das ein gut gehütetes Geheimnis. Am besten geht aber der Whisky pur aus dem großen Kristallglas. „Mensch, Erika! Das reicht!“, ruft einer und winkt ab, als sie wieder eines füllt. 

Nach dem dritten Herrengedeck sollen die Zigaretten nicht fehlen. Ich stelle fest, dass die Schachtel Kippen leider genauso teuer ist, wie im Rest der Welt. Auf den Marlboro-Packungen klebt noch kein krebskranker Mann. „Bei uns darf noch geraucht werden“, sagt Erika. Sie lacht und stemmt für einen Moment die Hände in die Hüften. Ganz kurz zeigt sie ihren Stolz und wenn viel los ist, aber niemand was bestellt, sieht man sie Gläser polieren. Dann fixiert sie einen Punkt an der Wand und wird ganz ruhig. 

Erika beginnt, den Tresen zu wischen. Wir wollen bezahlen. Über unseren Augen liegt ein Weichzeichner, der die rauchgelbe Zeitkapsel in ein buntes Medley aus Erinnerungen verwandelt hat. Ein letztes Mal bestellen wir, diesmal ein Flaschenbier für den Heimweg. Noch einmal gluckert es aus der Kaffeemaschine und die Wirtin stellt ihre Porzellantasse neben den Zapfhahn.

Schwer zu sagen, ob es diesen Ort in dreißig Jahren noch geben wird. Erika müsste dann geschätzt etwa einhundertundfünf Jahre alt sein. Vielleicht hält sie so lange noch durch. Vielleicht findet sich ja auch jemand, der das Lokal übernimmt. Seitdem der Tourismus immer tiefer in die Lausitz vorgedrungen ist, kommen auch junge Menschen wieder her. Vielleicht findet sich unter den Neuen jemand, der Erikas Platz einnehmen möchte. Vielleicht wird die Kneipe einen anderen Namen tragen, aber Knacke wird man sie trotzdem nennen. 

 

Dieser Artikel ist in der 250. Jubiläumsausgabe der UnAufgefordert erschienen. Hier ist die Ausgabe online zu lesen!