Mit „Deine kalten Hände“ liegt nun der dritte, auf Deutsch übersetzte, Roman der Südkoreanerin Han Kang, Autorin des Meisterwerks „Die Vegetarierin“, vor. Sie erzählt von einem Künstler, der hinter die Oberfläche der Menschen dringt, indem er Gipsabdrücke ihrer Körper nimmt.

Was sieht ein Mensch, der in den Spiegel blickt? Ein mürrisches, ein gleichmütiges, ein lächelndes Gesicht – und dahinter? Spielen wir alle nur Theater, wie der Soziologe Ervin Goffman behauptet; verschanzen wir uns hinter Masken, um unsere wahren Gefühle, Schwäche, Angst und Einsamkeit zu verbergen?

Eines Tages ruft eine unbekannte Frau die Schriftstellerin H. an. Ihr Bruder ist seit mehreren Monaten verschwunden. Der Vermisste ist der Bildhauer Jang Unhyong, dessen Plastiken auf H. eine unerklärliche Anziehungskraft ausüben. Seit sie nach einer Theateraufführung dem stillen Künstler die Frage nach dem „Warum“ seiner Kunst stellt, ist Unhyong verschwunden. Er hinterlässt lediglich ein Manuskript. Seine Schwester bittet H. es zu lesen. Darin erzählt Unhyong die Geschichte seines Lebens und seiner Kunst erzählen. Eine Geschichte des Verbergens und Enthüllens, der Geheimnisse und der Verletzungen.

Menschenmasken

Schon als Kind spürt Unhyong instinktiv, dass die Menschen um ihn herum ihr Innerstes zu verbergen trachten. Sein Onkel sucht seine versehrten Finger zu verstecken, der Vater hat anscheinend eine Geliebte und der junge Unhyong konstatiert, dass selbst das Gesicht seiner Mutter „einer lächelnden, harten Maske“ gleicht.

Es ist diese Oberfläche, die Unhyong zeitlebens in den Bann zieht; nicht ihr gesellschaftsfähiges Schönheitsideal, sondern der doppelte Boden darunter. So prägen zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sein künstlerisches Schaffen. L. ist eine „monströse“ Frau, ihr Körper deformiert durch die „gewölbten, sich überlappenden und hängenden Fleischmassen“. E. dagegen ist eine erfolgreiche Innenarchitektin, eine makellose Erscheinung. „Es war auffällig wie blendend sie aussah, wie elegant sie sich bewegte und sprach. Ihre Augen jedoch glichen schwarzen Glaskugeln“. Aus beiden Frauen ruft das Abgründige, das Unhyong aufhorchen lässt, das seine Inspiration freisetzt. Er nimmt lebensechte Gipsadrücke ihrer Körperteile und Körper.

Vis-à-vis mit der eigenen Oberfläche brechen L. und E. auf den innersten Punkt ihres Seins zusammen. Essstörungen, Missbrauchs- und Mobbingerfahrungen offenbaren die einsame und fragile Individualität hinter den vermeintlich abstoßenden oder vermeintlich schönen Hüllen.

Großartig, dass der Aufbau-Verlag sich nach dem Erfolg des Romans „Die Vegetarierin“ daran setzt, die übrigen Werke der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang ins Deutsche zu übersetzen. „Deine kalten Hände“ erschien bereits 2002 in Südkorea. Es ist somit ein früher Roman der Autorin, womit sie sich selbst als Schriftstellerin verortet. Wie Unhyong entblößt und verbirgt sie mit ihrer Kunst die grausame Realität hinter den Fassaden; was zunächst anmaßend und verletzend ist, ist gleichwohl notwendig und heilsam. In Südkorea boomen Schönheitsoperationen, der K-Pop inszeniert den perfekten Körper, die Suizidrate ist die höchste weltweit. Han Kangs Prosa verfolgt ein emanzipatorisches Moment. Das ist aufwühlende, aber nie plakative Literatur im besten Sinne.

Literatur im besten Sinne

Dass die Autorin dabei erzählerische Klischees nicht vermeidet, wie das ein sexueller Missbrauch in der Kindheit eine Essstörung nach sich zieht, ist zwar ein ärgerlicher Griff in die küchenpsychologische Mottenkiste, aber stimmig.

Han Kang schreibt in einer einfachen, zurückgenommenen, beinahe kalten Sprache, die an den Japaner Haruki Murakami erinnert. Auch das Faible für geheimnisvolle und introvertierte Protagonisten teilen die beiden ostasiatischen Autoren. Gleichsam balanciert Han Kang auf einer feinen Grenze zwischen Realismus und Mystik und zieht den Leser in ihren Bann.

Gleichwohl ist Han Kangs früher Roman nicht frei von Makeln. Die Rahmenhandlung um die Schriftstellerin H. Ist im Grunde überflüssig. Weshalb die Skulpturen Unhyongs solch eine Faszination ausüben ist nicht greifbar. Die im Roman behauptete Immersion seiner Kunst kollidiert mit Han Kangs sprachlichen Mitteln und bleibt eine Leerstelle, die Faszination erschließt sich ihren Figuren, aber nicht ihren Lesern. Doch erkennbar ist ihre schriftstellerische Ausgangslage. Die Oberflächlichkeit menschlicher Existenz, die Spannung zwischen sozialer Rolle und authentischem Selbst, Kälte und Wärme; existenzielle und gesellschaftliche Fragen, die Han Kang hier paradigmatisch für ihre späteren Romane umkreist. Das gelingt ihr nicht immer frei von Kitsch und stilistischen Unzulänglichkeiten, aber höchst eindringlich.

Han Kang: Deine kalten Hände
Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel
Aufbau-Verlag 2019
312 Seiten, gebunden. 22,00€

Foto: Baek Dahum