2005 hielt David Foster Wallace auf eine Bitte vor den Absolvent*innen des Kenyon College eine Abschlussrede. 2009 druckte Little, Brown and Company die Rede ab und mittlerweile gehört sie zur Pflichtlektüre aller Abschlussklassen in den USA. Warum sie auch an deutschen Schulen breiter rezipiert werden sollte und welchen Mehrwert sie für mich frisch nach dem Abitur gehabt hätte.

Ich halte nicht viel von Ratgeberliteratur, weil sie für mich oft nur kommerziell und pseudo-philosophisch angehaucht ist. Ich bin auch kein Fan der ‚famous last words‘ von berühmten Persönlichkeiten. Trotzdem entschied ich mich dazu, mir diese inzwischen kultige Rede von David F. Wallace, die er nur wenige Jahre vor seinem Tod abgehalten hatte, durchzulesen.

Es passierte an einem kalten Dezemberabend. Ich hatte mich mit einer Freundin verabredet, um gemeinsam die kleinen Indie-Buchhandlungen entlang der Schönhauser Allee abzuklappern. Wir passierten die Berufspendler an der U-Bahn Eberswalder Straße und blieben bei einem Laden stehen, der für seine erlesene Auswahl an US-amerikanischer Literatur bekannt ist – die Buchhandlung Uslar und Rai. Es dauerte nicht lange, bis ich ein Paperback von David Foster Wallaces abgedruckten Rede in Händen hielt. Das schwarz-weiße Design des Covers erinnerte mich an das Yin und Yang Symbol und auch der Untertitel weckte mein Interesse: „eine Anstiftung zum Denken“.

Der Autor war mir in Zusammenhang mit der häufig zitierten Fisch-Parabel bekannt, die auch seine Rede einleitet. Ich wurde neugierig und entschloss mich dazu, den Rest der Rede zu lesen. Beim Bezahlen an der Kasse meinte der Händler zu mir, dass das Buch sehr lesenswert sei, worauf ich erwiderte, dass er leider trotzdem einen tragischen Tod erlitten hätte. Er antwortete: „Das mag sein, aber sonst wäre er nicht der gewesen, der er ist.“

Was zum Teufel ist Wasser?

Mit diesem Denkanstoß fing ich mit der Lektüre der Rede an und stellte bald fest, dass Wallace’ Tod wie ich anfangs dachte kein Testament dafür ist, dass seine Lebensphilosophie gescheitert ist. In dieser Rede wirkt vielmehr die Weisheit einer Person nach, die einen viel größeren Durchblick als die Mehrheit der Menschheit hatte und vielleicht auch deswegen dem tragischen Schicksal von vielen gepeinigten Genies verfallen ist, die am Ende oft den Kampf mit sich selbst verloren.

Diese Weitsicht offenbart sich in der bereits anfangs erwähnten Parabel: „Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‚Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‘. Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ‚Was zum Teufel ist Wasser?‘“ Nach Wallace veranschaulicht dieses Beispiel, wie bewusstlos wir manchmal durch das Leben schwimmen und dass„die offensichtlichsten, allgegenwärtigen und wichtigsten Tatsachen oft die sind, die am schwersten zu erkennen und zu diskutieren sind“.

Dabei scheint es kein Zufall zu sein, dass einen existenzielle Gedanken oft nachts einholen. Tagsüber befinden wir uns im sozialen Miteinander, spielen unsere Rollen in der Gesellschaft und sind mit alltäglichen Erledigungen beschäftigt. Schon zuvor, aber vor allem seit der Lektüre denke ich nachts über die Ungewissheit als eine Konstante meiner Existenz nach und fragen mich, in welchem Wasser schwimme ich eigentlich. Letzten Endes kann ich diese Frage nie ganz beantworten und muss mich wohl damit abfinden, dass nicht auf jede Frage eine Antwort folgen wird.

Empathie muss gelernt sein

Für Wallace ist es dagegen ganz einfach: Neben Ignoranz und Dogmen, sei es vor allem der menschliche Hang zu Arroganz und Egozentrik, der dazu führt, dass man das Denken verlernt. Diese„Werkeinstellung“ des Menschen, sich selbst als das Zentrum des Universums zu begreifen, könne jedoch überwunden werden durch eine bewusste Entscheidung zur Empathie. Da wir unsere Gefühle unmittelbar erfahren und als wirklich erleben, während die von anderen Menschen uns kommuniziert werden müssen, sei die Egozentrik ein unmittelbares Resultat davon. Deswegen muss auch Empathie gelernt werden. Wallace ist der Ansicht, dass die Fähigkeit zu Mitgefühl von der Qualität unserer Bildung abhängt. So kann einem Bildung dabei helfen, empathischer zu werden und sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sie birgt aber ebenso die Gefahr, sich in Abstraktionen zu verlieren und die Ereignisse in seinem unmittelbaren Umfeld zu überinterpretieren.

Kommt mir irgendwie bekannt vor: Als Teenagerin habe ich zu oft das Gefühl gehabt, dass sich die Welt gegen mich verschworen hat. Ich empfand die sozialen Rollen, die das soziale Miteinander ermöglichen, als künstlich und die Erwartungen, die an mich gestellt wurden, wie eine Zwangsjacke. Ich fühlte mich einsam, weil ich glaubte, ständig beurteilt zu werden und war gereizt, weil ich noch keine Möglichkeit für mich gefunden hatte, meine Emotionen zu regulieren. Meine Flucht waren Bücher, angefangen bei Coming-of-Age Romanen wie „Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger und Harper Lee’s „Wer die Nachtigall stört“. Während meine Klassenkameradin*nen nach dem Abitur eine Reise nach Thailand oder Australien unternahmen, war ich in meinem Kinderzimmer mit der Mammutaufgabe konfrontiert, mein Leben nach dem Abitur zu gestalten. Hätte ich lieber Wallace lesen sollen?

Introspektion statt Abstraktion

Vielleicht ja, weil dann hätte ich darüber nachdenken können, was Wallace meint, wenn er fordert, dass Bildung statt für Überinterpretation zu sorgen, eher dabei helfen sollte, introspektiv zu sein und zu analysieren, was sich in einem selbst „abspielt“. Es gehe darum, seine eigenen Gedanken zu kontrollieren und so zu einer bewussteren Entscheidung gelangen zu können. Dass vor allem letzteres ein kompliziertes Unterfangen darstellt, ist auch Wallace bewusst: „Denken Sie einmal an das alte Klischee, der Geist sei ‚ein ausgezeichneter Diener, aber ein schrecklicher Herr‘. Oberflächlich betrachtet ist das nur ein weiteres lahmes und banales Klischee, aber auf den zweiten Blick birgt es eine große und schreckliche Wahrheit. Es ist keineswegs Zufall, dass Erwachsene, die mit Schusswaffen Selbstmord begehen, sich fast immer in den Kopf schießen.“

Wallace führt letzteres als ein Beispiel für die radikale Konsequenz der Gedankenlosigkeit und unüberwundenen Egozentrik auf, die ein bewusstes Leben und Denken behindert. Aber in welchen Situationen hilft es, empathisch zu denken? Zum Beispiel in den langen Warteschlangen im Supermarkt. Anstatt dass ich mich von diesem Alltagstrott frustrieren lassen und denke, dass das Universum sich in Form von Murphys Gesetz gegen mich verschworen hat und mich in meine negativen Gedanken reinsteigere, könnte ich das Gedankenexperiment wagen. Jenes Umdenken bezeichnet Wallace als alternatives Denken: man rückt von der eigenen Achse ab und versetzt sich in die Lage der Mitmenschen. In dem Beispiel mit der Warteschlange könnte ich mich einfach mal in die Kassiererin hineindenken, die einen langen Arbeitsalltag hatte, oder ich könnte die Perspektive meines Hintermann an der Kasse einnehmen, der vielleicht eine anstrengende Woche hatte. Es ist dabei egal, ob beispielsweise die Kassiererin wirklich einen schlechten Tag hatte oder nicht. Dieses Denken soll es vielmehr ermöglichen, dass man eine neue Perspektive auf die eigene Situation entwickelt und einem erleichtern, nicht im Alltagstrott zugrunde zu gehen, da das Erwachsenenleben aus vielen solcher Momente besteht.

Worin die wahre Freiheit besteht

Und damit trifft Wallace ins Schwarze. Denn das Leben ist in Wahrheit nicht wie eine Pralinenschachtel, die für einen Überraschungen bereithält, sondern monoton und manchmal auch sinnlos. Damals als Abgängerin des Gymnasium erlebt ich zum ersten Mal, was es bedeutet, zur Freiheit verurteilt zu sein und wie schwer es in Wahrheit ist, sich ein bedeutungsvolles Leben aufzubauen. Wenn ich diese Rede bei der Abschlussrede meiner Klasse gehört hätte, hätte ich sie wahrscheinlich als erfrischend ehrlich und eine gute Vorbereitung auf mein Leben empfunden. Heute liest sich seine Rede wie der Monolog einer Figur aus einem realistischen Coming-of-Age Roman, denn das Leben besteht in Wahrheit zu 5 Prozent aus einem aufregenden Strandurlaub und zu 95 Prozent aus fluoreszierendem Licht im Supermarkt und Straßenlärm. Letztendlich macht mir seine Rede klar, worin die wahre Freiheit besteht: „Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unterschiedliche Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.“

Ich werde wohl nie steuern können, was mir im Leben widerfährt, von welchen Ereignissen ich geprägt werde und dass mein Leben immer auf geraden Bahnen verläuft. Ich kann aber, und dass vielleicht dank Wallace, beeinflussen, wie ich auf Schicksalsschläge reagiere. Denn es geht ihm darum, eine Anleitung zum Leben zu geben, um nicht an der Realität zu scheitern. Und wenn ich das Gedankenexperiment eingehe, dann kann ich bewusster leben, nämlich indem ich nicht das Denken verlernen und meinen Mitmenschen mit Empathie begegne.

„Die Hölle sind die anderen“ meinte einmal der französische Existenzialphilosoph Jean Paul-Sartre. Vielleicht hatte er schon damals die deutsche Ellenbogengesellschaft vorausgesehen, der immer wieder Aggressivität und Egozentrik unterstellt wird. Aber das muss nicht so sein. Den Schlüssel für ein würdevolles Miteinander liefert Wallace bereits mit seinem Gedankenexperiment. Es liegt letztendlich an mir selbst, mit Hilfe meiner Vernunft zu einem empathischen Denken zu gelangen, und so meine eigene Sicht, die manchmal sehr eingeschränkt kann, um die Perspektiven meiner Mitmenschen zu ergänzen. Und das hätte ich gern früher erkannt.


Die abgedruckte Rede – David Foster Wallace: This Is Water. Das hier ist Wasser. Übersetzt von Ulrich Blumenbach – könnt ihr in jeder Buchhandlung erwerben. Wenn ihr lokale Buchläden unterstützen wollt, schaut gern mal in der Buchhandlung Uslar und Rai in der Schönhauser Allee vorbei.

Foto: Büsra Koc