Daniela studiert Medizin an der Berliner Charité und befindet sich deshalb zu Beginn des russischen Angriffs nicht in ihrem Heimatland, der Ukraine. Durch eine Spendenaktion hofft sie, ihre Mutter aus Kyjiw nach Berlin zu holen. Über den Versuch, Alltag und Ausnahmesituation zu vereinen.

Daniela Gaiciuc bestellt einen Lavendelkaffee, eine Mischung aus Koffein und entspannender Heilpflanze. Derzeit erlebt die 20-jährige Medizinstudentin eine Zeit der Gegensätze. In ihrer Heimatstadt Kyjiw ist der Krieg ausgebrochen. Die Ukrainerin ruft daraufhin eine Spendenaktion ins Leben, um ihre Mutter von Kyjiw nach Berlin zu holen. Gleichzeitig stehen ihr an der Charité wichtige Prüfungen bevor: „Ich versuche, mich zusammenzureißen. Ich werde mich weiter vorbereiten, um ein bisschen Normalität zu haben.“

Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar hat sich der Alltag für Ukrainer*innen drastisch verändert. „Seitdem gab es keinen Montag, keinen Dienstag mehr, sondern wirklich nur den ersten Tag, den zweiten, den dritten, den zwölften, den dreizehnten“, erzählt Daniela. Im  Familienchat  tauschte sie bisher mit ihren Verwandten Geburtstagsglückwünsche aus. Inzwischen kontrolliert sie dort täglich, ob es allen gut geht. „Mein Morgen beginnt immer noch damit, dass ich meinen Freunden schreibe ‘bist du am Leben‘ statt ‘guten Morgen‘.“ Es ist keine einfache Situation für die Studentin im zweiten Semester der Berliner Charité. Während sie das Gefühl hat, zu versagen, weil sie eine der Prüfungen verschoben hat, gelten in ihrer Heimatstadt Kyjiw schon fünf ihrer Freunde als vermisst.

Über ihre Mutter spricht Daniela nur ungern, denn sie weiß nicht, wo diese sich momentan befindet.

Ihre Familie hat Daniela das letzte Mal im Oktober gesehen. Einen Tag vor dem Gespräch hat ihre Mutter einen Zug von Kyjiw nach Berlin bestiegen. Seitdem hat sie nichts mehr von ihr gehört. Mithilfe einer Spendenaktion finanzierte Daniela ihr die knapp 1200 Kilometer lange Fahrt: „Ich habe mich dafür entschieden, obwohl mir das irgendwie peinlich war. Ich habe vorher nie Geld von Freunden geliehen und war immer selbstständig. Aber ich dachte, dass es einfach Situationen gibt, in denen man das tun soll, und dann habe ich es getan.“ Von den 952 Euro die Daniela sammelte, investierte sie 650 Euro in medizinische Hilfsmittel für ein Krankenhaus in Kyjiw.

Die medizinische Versorgung in der Ukraine beschäftigt Daniela sehr. Ein im Internet kursierendes Video, das die in einen Bunker verlegte Neugeborenenstation zeigt, kommentiert sie mit den Worten: „Jeder Mediziner, der das sieht, versteht, dass man ohne Beatmungsgerät nicht ewig beatmen kann. Eine Intensivstation im Bunker ist einfach nicht möglich und das sind alles Kinder.“

„Wenn du fliehst, rufst du nicht deine Uni an und sagst ‘sorry, können Sie mir bitte Dokumente mit meinen Noten ausstellen?‘.“

Viele ihrer Freund*innen leisten gerade 50-Stunden-Schichten in ukrainischen Krankenhäusern und schlafen dort. Das macht Daniela zwar stolz, gleichzeitig bereitet es ihr Sorgen, das andere Freund*innen im letzten Semester ihres Medizinstudiums nun zur Flucht gezwungen sind. „Wenn du fliehst, rufst du nicht deine Uni an und sagst ‘sorry, können Sie mir bitte Dokumente mit meinen Noten ausstellen?‘.“ Dazu käme das Problem, dass das ukrainische Medizinstudium in Europa trotz des überall herrschenden Ärztemangels nicht direkt anerkannt werde. Eine solche Anerkennung dauere in der Regel drei bis fünf Jahre. „In der Zeit könnte man nochmal Medizin studieren“, merkt Daniela an. Sie kennt allerdings niemanden, der dauerhaft im Ausland bleiben will: „Alle wollen nur nach Hause.“

Sie betont, wie schwierig und anstrengend eine Flucht sei: „Ich finde, um zu bleiben braucht man nicht viel Mut; zum Fliehen braucht man Mut. Es ist nicht einfach, alles zurückzulassen und zu sagen, ich verabschiede mich jetzt hier und ich hoffe, dass ich zurückkomme.“

Vor Kurzem hat sie in der Geflüchteten-Erstanlaufstelle, in der sie aushilft, einen 15-jährigen Jungen untersucht. Um Berlin zu erreichen, habe er eine 130 Kilometer lange Strecke zu Fuß zurückgelegt. „Der hatte die schlimmsten Ödeme, die ich je gesehen habe und er ist 15, ohne Eltern, ohne nichts“, erzählt sie. Auch in den Zügen ergehe es den Menschen nicht besser: „Man kann sich das nicht vorstellen, fünf Tage in einem Wagon mit manchmal 120 anderen Menschen zu sitzen. Wenn jemand auf unserer Sitzplatzreservierung sitzt, dann gibt’s ja schon Ärger.“

„Manche sagen jetzt, dass es den Krieg schon seit 8 Jahren gibt. Wir wissen das ganz genau. Meine Generation ist damit aufgewachsen – im Kopf und im Herzen.“

Es ist nicht der erste Kontakt zu Geflüchteten für Daniela. Denn als im Jahr 2014 Russland unter Bruch des Völkerrechts die ukrainische Halbinsel Krym annektierte und regional bewaffnete Konflikte im Osten der Ukraine begannen, seien viele Menschen nach Kyjiw geflohen: „Vorher waren wir nur 20 Leute in der Klasse, dann auf einmal 35.“ Eine ihrer guten Freundinnen befand sich unter den Geflüchteten und hat damals alles verloren: das Haus, das Auto, die Eltern, den Job – alles Mögliche“. Nun ist deren Sicherheit zum zweiten Mal in Gefahr. „Manche sagen jetzt, dass es den Krieg schon seit 8 Jahren gibt. Wir wissen das ganz genau. Meine Generation ist damit aufgewachsen – im Kopf und im Herzen“, sagt sie. Schon in der Schule trainierte Daniela, sich zu verstecken oder bei Sirenengeheul in den Keller zu laufen. Jedoch seien die Ukrainer*innen durch den Konflikt enger zusammengerückt: „Wir wissen seit unserer Kindheit, dass wir für Freiheit kämpfen müssen und dass sie verteidigt werden muss.“ 

Auch Danielas Tante befindet sich weiterhin in Kyjiw. Da ihr Mann in einem wichtigen Elektrizitätswerk arbeitet, will sie die Stadt nicht verlassen: „Sie kann einfach nicht ohne ihn losfahren.“ Daniela kann das verstehen: „Ich finde es tatsächlich ein bisschen beruhigend, dass mein Vater vor zwei Jahren gestorben ist. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie es mir jetzt gehen würde, wenn meine Mutter fliehen würde und mein Vater da bleiben müsste. Das würde ich wahrscheinlich nicht überleben. Das ist sehr schmerzhaft.“

Insgesamt hätte sie einfach nur Glück damit gehabt, dass sie in Deutschland und nicht in der Ukraine Medizin studiere. Auch eine Freundin, die zu Kriegsbeginn im Urlaub war, sehe das ähnlich: „Wir hatten das Gefühl, wir hätten es nicht verdient, zu überleben. Wir könnten theoretisch auch in der Ukraine sein und nur weil wir Glück gehabt haben, sind wir jetzt hier. Wir sind am Leben und müssen nicht flüchten, obwohl wir nicht bessere Menschen sind als jene, die dort sind.“ Später erzählt Daniela, dass sie für den vorherigen Tag ein Flugticket gehabt hätte – für einen Zahnarzttermin in Kyjiw.

„Es tut irgendwie weh, zu sehen, dass für alle das Leben weiter geht. Denn für manche ist es schon zu Ende.“

Dass in Berlin die Clubs nun wieder öffnen, sieht Daniela kritisch. Denn, während für viele Menschen hier das alltägliche Leben weiter gehe, werde es für Ukrainer*innen vielleicht nie wieder das gleiche sein. Es falle ihr schwer, das zu akzeptieren, meint sie. Dann hält sie kurz inne und sieht sich um. Sie wartet, bis das lautstarke Brummen der Siebträgermaschine hinter ihr abgeklungen ist. „Ich bin ein Fan von TikTok und habe da meine Lieblings-Medizin-Influencer. Es tut irgendwie weh, zu sehen, dass für alle das Leben weiter geht. Denn für manche ist es schon zu Ende”, sagt sie mit einem Kloß in der Stimme und greift zu einer Serviette aus der Box auf dem Tisch. Sie trägt die Aufschrift ‘love, peace, coffee‘.

Für das Treffen hat Daniela ein Café zwischen Hauptbahnhof und Kanzleramt gewählt. Während an jenem inzwischen täglich um die zehntausend Geflüchtete ankommen, wird einige hundert Meter weiter Danielas Meinung nach zu wenig für die Ukraine getan. „In Deutschland scheint es mehr wie ein politischer Konflikt, den man lösen soll – nicht unbedingt jetzt, irgendwann. Und das obwohl dahinter Menschenleben stehen, Millionen von Menschenleben.“, sagt sie und blickt Richtung Kanzleramt.

Auf die Frage hin, was sie sich stattdessen von den Studierenden wünsche, antwortet sie: „Ich würde mir wünschen, dass man darüber spricht. Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen, was in der Welt vorgeht.” Genau aus diesem Grund habe sie auch einem Gespräch zugestimmt. Sie glaubt, dass sich nur etwas ändern könne, wenn man Probleme thematisiert.

„Ich war noch nie im Leben so stolz auf meinen Pass wie jetzt, weil er ein Pass der Freiheit und Demokratie ist.“

Positive Worte findet die Ukrainerin für all die Menschen, die nun Hilfe leisten. Egal, ob auf Demos oder durch das Engagement in humanitären Organisationen. Ihrer Meinung nach ist jede noch so kleine Unterstützung wichtig, vor allem dann, wenn es am Ende hunderttausende Menschen seien, die sie leisten.

Daniela möchte für ein Foto ihre Maske anbehalten. Sie fühle sich damit wohler. Zu unserem Treffen wählte sie ein Kleid mit ukrainischem Blumenmuster. Es solle zwar nicht allzu patriotisch wirken, aber ihre Verbundenheit mit der Ukraine symbolisieren. „Ich war noch nie im Leben so stolz auf meinen Pass wie jetzt, weil er ein Pass der Freiheit und Demokratie ist“, sagt sie und geht.


Anm.d.Red.: Das Interview wurde am 8. März 2022 geführt. Einige Tage nach dem Gespräch schrieb uns Daniela, dass ihre Mutter sicher in Berlin angekommen sei.

Foto: Ronja Reckmann; zeigt: Daniela Gaiciuc