Die UnAuf hat bei ihrer Auslandsreise 2018 den Jura-Studenten Vladyslav Faraponov getroffen. Vier Jahre später berichtet er, wie es ist, plötzlich im Krieg aufzuwachen.

Bei unserem letzten Besuch studierte Vladyslav Faraponov Jura in Kyjiw* und engagierte sich politisch für die Sozialdemokratische Partei. Inzwischen arbeitet er als politischer Analyst und Journalist bei „Internews Ukraine“ und „Ukraine World“. Kurz bevor am 24. Februar die ersten Bomben in den Wohnhäusern, Einkaufszentren und Kliniken der ukrainischen Hauptstadt einschlugen, verließ Faraponov sein Zuhause. Als wir sprechen, sitzt er vor seinem Laptop irgendwo im Westen der Ukraine. Den genauen Aufenthaltsort möchte er nicht nennen, um sich und seine Familie zu schützen.

UnAuf: Wie hast du die letzten Wochen seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wahrgenommen? 

Vladyslav: Mir ist erst allmählich klar geworden, dass der Krieg mehr als zwei, drei Wochen dauern wird. Die ersten drei, vier Tage kamen mir schon vor wie ein ganzer Monat. Sie waren wahrscheinlich die herausforderndsten Tage und danach habe ich mich leider daran gewöhnt. Ich versuche nicht zu sehr in Panik zu geraten und mir keinen zusätzlichen Druck zu machen. Die Menschen hier verändern ihr Verhalten und Denken.

Hat sich in den letzten Tagen etwas für dich verändert? Medienberichten zufolge konzentrierten sich die russischen Streitkräfte anfangs auf die Ostukraine und die östlichen Teile von Kyjiw, haben aber mittlerweile auch Städte im westlichen Teil der Ukraine bombardiert.

Ja, vor drei Tagen griff Russland einen Militärflughafen in der Region Lwiw an, der nur etwa 18 Kilometer entfernt von der Grenze zu Polen liegt (Anm. der Redaktion: am 13. März). Außerdem ist Kyjiw nach einer kurzen Pause erneut Ziel russischer Angriffe geworden, auch meine Nachbarschaft, in der ich früher gelebt habe. Soweit ich weiß, ist mein Haus okay. Aber gestern wurde ein Haus komplett zerstört, das weniger als 200 Meter von meinem entfernt ist. Im Moment steht es also noch da, aber ich weiß nicht wie lange noch.

Wie sieht dein Alltag momentan aus? 

Die bedeutendste Veränderung ist, dass man mit den Nachrichten aufwacht und mit ihnen wieder ins Bett geht. Für mich sind Informationen der beste Weg, um mit dem Stress umzugehen. Gleichzeitig übt dieses informiert bleiben und sich gegenseitig auf dem Laufenden halten, manchmal aber Druck aus. In meiner Familie haben wir deshalb beschlossen, nicht mehr so viel über die Nachrichten zu sprechen. Menschen reagieren unterschiedlich auf die Berichte und für einige ist es sehr belastend, das alles zu hören.

Ansonsten kommt es sehr auf die Region und die Sicherheitslage an, wie ein Tag in der Ukraine gerade aussieht. In einigen Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt. Hier wo ich bin, kann ich noch rausgehen, um etwa einkaufen zu gehen. Aber das beschränkt sich dann auf dringend benötigte Sachen wie Lebensmittel und Kleidung. Im ganzen Land geben die Menschen und die Regierung ihr Bestes, um das normale Leben aufrecht zu erhalten, aber natürlich läuft nicht alles nach Plan.

Als dich die UnAuf im Februar 2019 nochmals befragte, stand kurz darauf die Präsidentschaftswahl an, bei der Wolodymyr Selenskyj gewann. Es schien damals so, als habe ihn bis dahin niemand so wirklich ernst genommen. Wie hat sich Selenskyj seither als Präsident entwickelt? 

Die politische Kommunikation hat sich total verändert. Meiner Meinung nach wurde Selenskyj in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit selbstsicherer in der Politik – auch wegen der Corona-Pandemie. Nur damit ihr versteht was ich meine: Ich habe 2019 für ihn gestimmt, weil ich seinen Vorgänger Petro Poroschenko absolut nicht unterstützt habe. Aber während der ersten 1,5 Jahre von Selenskyjs Amtszeit sah ich einige Dinge, die mir nicht gefallen haben, sodass ich mein Vertrauen in ihn fast verloren habe. Wie er mit seinem Team im Parlament umgegangen ist zum Beispiel. Wegen interner Streitigkeiten hat Selenskyj den damaligen Parlamentschef, seinen ehemaligen Teamkollegen, Dmytro Rasumkow entlassen. Er sieht in ihm einen Konkurrent, auch für die nächste Präsidentenwahl. Und doch habe ich jetzt großen Respekt vor Selenskyj.

Warum?

Er hat eigentlich genau eine Sache gemacht: Er hat das Land nicht verlassen und das trotz der Ankündigungen und Warnungen, dass er und seine Familie gefährdet sind. Er ist in Kyjiw geblieben und übt sein Amt weiter aus.

Das ist eine sehr starke Message an die Bevölkerung und an die westlichen Staatschefs. Denn während des Euromaidan 2014 ist der damalige Präsident Wiktor Janukowytsch einfach gegangen – Selenskyj ist geblieben. Und das obwohl es in der Ukraine gerade viel gefährlicher und unvorhersehbarer ist als vor acht Jahren. Der Krieg betrifft ja nicht nur die östlichen Regionen wie damals, sondern auch die westlichen Regionen und Kyjiw.

Hättest du gedacht, dass Wladimir Putin das gesamte Land  angreifen würde?

Eigentlich nicht. Ich dachte, es wäre zu irrational, tatsächlich einen Krieg zu beginnen. Ich dachte, es wäre zu unreif. Ich habe kurz andauernde Provokationen im Donbass erwartet, aber wirklich kurze. Ich hätte nicht erwartet, was jetzt passiert ist – obwohl ich mich durch meine Arbeit viel mit Politik beschäftige.

Aber wahrscheinlich war es einer der größten Fehler der Ukrainer und des Westens rational darüber nachzudenken. Alles davon ist absolut irrational. Kyjiw zu bombardieren, Charkiw zu bombardieren, die westliche Ukraine zu bombardieren besonders – es ist zu irrational. Ich würde sagen, da können wir nicht rational denken, wie wir es normalerweise tun – denn normalerweise tut keiner Dinge, die ein ganzes Land vollkommen zerstören können.

Als Reaktion darauf hat der Westen Sanktionen gegen Russland erlassen. Was denkst du über diese Maßnahmen, insbesondere über die deutschen? Denkst du, dass sie ausreichen?

Ich habe nicht erwartet, dass Deutschland tatsächlich die Gaspipeline Nord Stream 2 stoppen würden. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass sie das durchziehen, aber ich bin glücklich darüber, falsch gelegen zu haben. Meiner Beobachtung nach sind die Ukrainer generell dankbar für die Sanktionen, aber dass wir gern mehr sehen würden, ist absolut klar.

Ich erwarte auch mehr Engagement bei den Friedensverhandlungen. Die Gespräche zwischen der Ukraine und Russland haben bisher noch keine Ergebnisse gebracht, deshalb würde ich mir wünschen, dass die USA, Deutschland und andere Länder aktiver an den Verhandlungen teilnehmen.

Denkst du also, dass es noch einen diplomatischen Weg gibt, um den Krieg zu beenden?

Natürlich!

In den vergangenen Tagen und Wochen wurde sehr viel über die Ukraine berichtet. Hast du das Gefühl, dass die internationalen Medien dabei etwas nicht abbilden, etwas was nur ihr in der Ukraine sehen könnt?

Es gibt einen wichtigen Punkt, den die Medien zu wenig darstellen und den auch Putin unterschätzt hat. Er dachte, die Ukrainer würden sich im Kriegsfall streiten – um Gas, um Essen, sogar um Toilettenpapier oder bessere Plätze in den Bunkern. Aber er hat die Ukrainer so sehr unterschätzt! Er hätte nie gedacht, dass die Ukrainer so großzügig und liebevoll zueinander sind, so pro-europäisch, so pro-demokratisch, sogar in der schlimmsten Zeit ihres Lebens. Natürlich gab es Berichte darüber, aber das kann nicht abbilden, wie es hier in Wirklichkeit ist.

Und der zweite Punkt ist das Verbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren, das Land zu verlassen. Keiner berichtet darüber, dass deshalb so viele Menschen hier bleiben. Denn zu flüchten, würde bedeuten, einen Sohn, einen Vater, einen Großvater zurückzulassen

Hast du selbst darüber nachgedacht, zu flüchten?

Ich habe viele Freunde im Ausland, natürlich habe ich darüber nachgedacht. Aber ich werde die Grenze nicht illegal überqueren.

Hast du Verständnis für dieses Gesetz?

Ja, denn wenn jeder geht, wer kämpft dann für dieses Land?

 


* Die Schreibweise “Kyjiw” entspricht der deutschen Übersetzung aus dem Ukrainischen. Das in Deutschland häufiger verwendete “Kiew” wird hingegen aus der russischen Schreibweise abgeleitet. Als Zeichen der Unabhängigkeit von Russland initiierte das ukrainische Außenministerium bereits 2018 die Kampagne #kyivnotkiev, die ausländische Medien dazu bewegen soll, im Englischen “Kyiv” statt “Kiev” zu schreiben.

Foto: Vladyslav Faraponov