In Weißrussland gehen seit einigen Wochen Demokratie-Aktivist*innen im ganzen Land auf die Straße. Doch die Diktatur um Aljaksandre Lukaschenko greift hart durch. Im Interview spricht eine in Deutschland lebende Weißrussin über die aktuelle Situation und das Risiko demokratischen Engagements.

In den vergangenen Monaten gab es in Weißrussland die Hoffnung auf einen demokratischen Umbruch. Zum ersten Mal seit der Machtergreifung durch Aljaksandr Lukaschenka Anfang der 90er-Jahre gab es einen Gegenkandidaten bei den weißrussischen Präsidentschaftswahlen im kommenden August, der kein Strohmann des Regimes war. Seit dieser Gegenkandidat, Mikola Statkewitsch, vor Kurzem von der Wahl ausgeschlossen und kurzzeitig inhaftiert worden war, gehen Demokratie-Aktivist*innen im ganzen Land auf die Straße. In Minsk sollen bis zu 360 Demonstrant*innen verhaftet worden sein. 

Für Mathilda* und andere Weißruss*innen in Deutschland ist die Situation doppelt frustrierend: Einerseits gibt es kaum Aufmerksamkeit oder gar Unterstützung für die Demokratiebewegung in Belarus, wie Mathilda Weißrussland lieber bezeichnet. Und andererseits kann sie selbst nur schwer etwas dazu beitragen, dass sich etwas an diesem Desinteresse ändert. Denn Mathilda muss Angst haben, dass nur ein einziger öffentlicher Post und jede Form von politischem Engagement sie ihre Einreiseerlaubnis nach Weißrussland, wo ihre Mutter lebt, kosten kann. Von Konsequenzen für ihre Familie vor Ort ganz zu schweigen.

Sie und andere Weißruss*innen, die in Deutschland leben, nutzten die geschützten internen E-Mail-Listen einer deutschen Organisation, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Im Interview schildert Mathilda, wie sie die vergangenen Wochen in Belarus aus der Ferne erlebt hat und ruft dazu auf, der Demokratiebewegung dort mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

UnAuf: Warum gehen gerade so viele Menschen in Belarus auf die Straßen?

Mathilda: Kurz gefasst: Wir haben drei Präsidentschaftskandidaten. Und alle sitzen im Gefängnis. Eine sitzt im Karzer (Anm. der Red. eine Art Arrestzelle). Die Menschen hatten endlich mal eine Hoffnung, dass sie was verändern können. Sie gehen auf die Straße, sie demonstrieren friedlich! Vor einigen Tagen wurde einer der Admins unseres Telegram-Channels festgenommen. Das ist aktuell die einzige Plattform, auf der es möglich ist, die Wahrheit darüber zu erfahren, was in Belarus los ist.

Du hast dich mit einem sehr persönlichen Text über eine nicht-öffentliche Mailing-Liste an viele fremde Menschen gewandt, um über die Situation in Belarus zu berichten. Was hat dich dazu bewegt? 

Ich wollte versuchen, Menschen einfach die Augen zu öffnen, damit sie meinen Schmerz verstehen, damit sie mich nicht mehr fragen, warum ich mein Land verlassen habe. Ich will erreichen, dass wir unterstützt und gehört werden, damit das Volk sich mutig und nicht alleingelassen fühlt! Ich will mich nicht öffentlich äußern, weil meine Familie schon oft unter der Gefahr von Repressionen stand und mein Onkel schon einmal für fünf Jahre für sein Engagement verurteilt worden ist. Ich muss sehr vorsichtig sein. 

Wie hast du die Situation in Belarus selbst erlebt, als du noch vor Ort warst?

Es ist leicht, Aktivist*in zu ein, wenn die Probleme, die du bekämpfst, ohnehin schon globale Aufmerksamkeit bekommen. Es ist viel schwieriger, Aktivist*in zu sein, wenn die Dinge, die dir am Herzen liegen, der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind oder kaum jemanden, außer diejenigen, die direkt betroffen sind, berühren. Stell dir eine Welt vor, in der du nicht sagen kannst, was dir wichtig ist, weil du Angst haben musst, von der Regierung verfolgt oder verhaftet zu werden, ohne dass man dir einen Grund nennt. In Belarus können wir Politik, Körperbilder, LGBTQIA-Themen oder Rassismus nicht thematisieren, weil das zu Geld- und Haftstrafen führen kann oder einfach von sogenannten „Kultur-Kuratoren“ unterdrückt wird, die eine Weltsicht aus dem 19. Jahrhundert vertreten. Das ist Belarus, die letzte Diktatur Europas. Die Leute dort müssen sich das alles nicht vorstellen, weil es ihre Lebensrealität ist. 

Wie hast du die Proteste in Belarus in den letzten Wochen aus der Ferne in Deutschland erlebt? 

Es war einerseits herzerwärmend, die große Unterstützung für Black Lives Matter und den Kampf für Gleichheit und Polizei-Reformen zu sehen. Andererseits ist es enttäuschend zu sehen, wie dieser Aktivismus verschwindet, wenn gleichzeitig ein genauso wichtiges Problem auftritt und dieselben Menschen, die sich zu anderen Dingen schnell zu Wort gemeldet haben, zu anderen Themen auffallend still bleiben. In diesem Moment werden in Belarus unabhängige Journalist*innen verhaftet und jede Form der Berichterstattung, die nicht direkt von der Regierung stammt, unterdrückt. Das einzige, was man jetzt von außen tun kann, ist, dabei zu helfen, Nachrichten über das Geschehen in Belarus zu verbreiten. Dazu versuchen wir, Hashtags wie #freedomforbelarus zu verbreiten. Ihr müsst die Stimme für diejenigen sein, die sich nicht selbst zu Worten melden können!

Vielen Dank für das Gespräch.