Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk spricht über den „Flickenteppich“ Grundgesetz, verpasste Chancen der Wiedervereinigung und warum eine neue Verfassungsdebatte einen demokratischen Aufbruch bedeuten kann.

30 Jahre nach der Wiedervereinigung, der Gründung des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder” am 16. Juni 1990 und der kurzen deutsch-deutschen Verfassungsdebatte fordert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der die Revolution von 1989 in Berlin mitgemacht und Anfang der 1990er Jahre auch in der UnAufgefordert geschrieben hat, das Grundgesetz erneut zur Debatte zu stellen. Mit einer neuen Verfassungsdebatte soll die demokratische Mehrheit sich gegen die neuen Rechtsextremen positionieren, Europa gestärkt und ein neues Miteinander gefunden werden für eine Gesellschaft, die zunehmend nicht-weiß ist und einen Ausweg aus der Klimakrise sucht. Bei Kowalczuks neuer Verfassungsdebatte geht es nicht um eine Aussöhnung zwischen Ost und West – sondern um den „utopischen Versuch”, wie aus „unserer Gesellschaft wenigstens ansatzweise und verfassungsgemäß eine Gemeinschaft” werden kann.

UnAuf: In Ihrem Buch Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde schreiben Sie, dass die „fehlende Gesamtidee des Westens“ den ehemaligen DDR-Bürger*innen zu schaffen machte – hätte man eine solche gemeinsame Idee in einer gemeinsamen Verfassung skizzieren können?

Kowalczuk: Also, ich schreibe das ja nicht so apodiktisch, wie Sie das formuliert haben: Das dem Westen eine Idee fehle. Hierbei habe ich mich auf Ralf Dahrendorf und dessen große Studie von 1965 und im Prinzip auf einen Aufsatz von Uwe Johnson von 1970 berufen. Beide haben Untersuchungen ausgewertet, was mit „Ostmenschen“ passierte, als sie in den 60er Jahren in den Westen kamen. Das ist insofern interessant, als dass das ja keine Leute waren, die Anhänger des SED-Regimes gewesen wären. Die standen diesem Regime kritisch gegenüber oder waren ausgesprochene Gegner. Als diese Leute in den Westen kamen, fielen sie oft trotzdem in eine gewisse geistige Leere. Das hängt damit zusammen, dass man, wenn man im Osten beziehungsweise im Kommunismus aufgewachsen ist, unentwegt dazu gezwungen wurde, sich mit der Sinnhaftigkeit des Systems, sich mit der Ideologie, mit der Theorie auseinanderzusetzen. Das ist der Rahmen, vor dessen Hintergrund ich über diese „fehlende Gesamtidee“ gesprochen habe: Nach dem Mauerfall kamen nun 16 Millionen Menschen auf einen Schlag in den Westen – und warum sollte es denen eigentlich anders ergangen sein als den Individualschicksalen, die Dahrendorf oder Johnson beschrieben haben? Was passierte eigentlich mit diesen Leuten?

Das ist aber losgekoppelt von der Verfassungsdebatte – denn bei der Verfassungsdebatte geht es eigentlich um eine ganz andere Frage. Aufgekommen war die Verfassungsfrage im Wahlkampf zur Volkskammer am 18. März 1990. Es stand die Frage im Raum: Gibt es eine Wiedervereinigung nach Artikel 23 (Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) oder nach Artikel 146 (Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung)? Artikel 23 ist ursprünglich ins Grundgesetz aufgenommen worden für den Fall, dass das Saarland in die Bundesrepublik kommt. Für die Wiedervereinigung mit dem Osten hingegen war dagegen Artikel 146 vorgesehen. Deswegen heißt das Ding auch „Grundgesetz“: Um den vorläufigen Charakter dieser Verfassung zu betonen. Das war die Idee der Gründungsväter und der vier Gründungsmütter.

Und nun, 1990, gab es einen kurzen und heftigen Wahlkampf, dessen Ausgang bekannt ist (fast 50 Prozent der Stimmen für die von Kohl unterstützte „Allianz für Deutschland“). In der DDR brach am Runden Tisch eine Verfassungsdiskussion los, die zwar nicht wirklich breit geführt wurde, aber politisch sehr interessant ist. Die Leute, die das betrieben haben, holten sich Unterstützung aus dem Westen, unter anderem Bernhard Schlink, aber auch viele andere, die in der Bundesrepublik zum linksliberalen und linken Milieu gehörten und sich ebenfalls schon länger Gedanken machten, was eigentlich mit dem Grundgesetz zu machen sei. 1990 gab es überdies einen großen Konsens über die politischen Lager hinweg, auch bei Verfassungsrechtlern, dass Deutschland nun eine neue Verfassung benötige. Die Debatte in der DDR bekam dann nach dem 18. März aber eine andere Bedeutung; nachdem klar war, dass es die Wiedervereinigung nach Artikel 23 geben wird, war die Idee, dass zwei demokratische Systeme sich auf Augenhöhe miteinander vereinigen könnten – das ist ja die Idee von Artikel 146 – passé.

75 Prozent der DDR-Bevölkerung haben bei den Wahlen ein ganz klares Votum für Artikel 23 abgegeben. Das konnte man natürlich bedauern, gar keine Frage, aber das war nun mal so. Dann ging aber die Debatte weiter, ob das Grundgesetz auch irgendwie reformiert werden müsste. Das war eine Debatte, die in den 1990er Jahren dann schnell außerhalb von linksliberalen Milieus niemand mehr führen wollte. Es hieß sinngemäß: Wir haben gewonnen und es kann alles so bleiben, wie es ist; und es gab ja auch genug andere Aufgaben. Die Idee derer aber, die diese Debatte trotzdem weiterführen wollten, war: Nachdem wir jetzt schon nichts Neues einzubringen haben und das sozusagen eine Eins-zu-Eins-Übertragung, eine „Übernahme“, wird – was macht man jetzt eigentlich mit den Menschen, wenn die mehr oder weniger „nackt“ in ein neues System kommen?

Da war die Idee hinter der Verfassungsdebatte der 1990er Jahre, und das ist auch der Sinn der ganzen Vorrede: Damit die Westler irgendwie das Gefühl bekommen, das auch für sie irgendetwas Neues beginnt, und damit die Ostler die Wiedervereinigung nicht nur als „totale Übernahme“ oder Übergabe erleben, arbeiten wir eine neue Verfassung aus, mit neuen verfassungsrechtlichen Symbolen, damit wir symbolisieren: Es hat etwas Neues begonnen, sodass das auch im Lande noch der Letzte begreift. Am Text des Grundgesetzes hätte das Ergebnis einer solchen Debatte in vielen Dingen wahrscheinlich gar nicht so wahnsinnig viel geändert – aber es wäre für den kulturellen, den mentalen Effekt der Wiedervereinigung, und das glaube ich nach wie vor, von ziemlich hoher Bedeutung gewesen.

Das heißt, so wie es passiert ist, kann man dann sagen: Die Wiedervereinigung war kein politischer Prozess, insofern, als dass er für die Westdeutschen keine lebensweltlichen Veränderungen bedeutete?

Kein politischer Prozess – das würde ich ganz und gar nicht sagen. Das war ein eminent politischer Prozess. Es war aber kein gesellschaftspolitischer Prozess zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen beziehungsweise zwischen Schleswig-Holstein und Bayern, weil die Leute davon zunächst nicht viel persönlich mitbekamen. Das Erste, was sie mitbekamen, war, dass in bestimmten Bereichen auf einmal Dumpinglöhne bezahlt worden sind, weil Ostler massenhaft in den Westen strömten und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen anboten. Das zweite, was sie bemerkten, war, dass der Wohnungsmarkt enger wurde, da gab es dann die ersten Unruhen. Das kennen wir auch alles aus anderen Debatten: Da herrschte genau dieses unmögliche Bild „Das Boot ist voll“, wie das dann später auch in anderen Kontexten propagiert wurde. Und dann kam irgendwann der „Solidaritätszuschlag“, von dem bis heute viele Westler glauben, dass nur sie den bezahlt haben, nicht etwa alle sozialversicherungspflichtigen Jobs, also sprich: Auch die Ostler, die einen sozialversicherungspflichtigen Job hatten.

Was also ausblieb bei der Wiedervereinigung war eine gesellschaftspolitische Debatte im Westen selbst. Man kann das im Prinzip in das Bild oder in den Satz bringen: Ab dem ersten Juli 1990, das ist der Tag der Währungsunion, änderte sich im Osten für alle Menschen alles – es blieb praktisch kein Stein mehr auf dem anderen – während im Westen, also zwischen Schleswig-Holstein und Bayern-Baden-Württemberg, sich gar nichts änderte.

Glauben Sie, dass diese Problem- oder Gemengelagen, die dann in den 90ern aufgetreten sind und mit denen wir noch heute zu tun haben, inklusive der viel höheren Wahlerfolge der AfD und so weiter – wäre das alles anders gekommen mit einer Verfassungsdebatte? Oder hätte das nur den größten Druck abgefedert?

Ich bin nicht so gut in kontrafaktischer Geschichtsschreibung, und ich bin auch nicht so gut im Herumspekulieren. Natürlich hätte es die sozioökonomischen Probleme trotzdem gegeben, gar keine Frage. An diesen Strukturen der Wiedervereinigung hätte sich nicht viel geändert. Das gilt beispielsweise auch für die Frage der Eliten-Rekrutierung, die ja ein zentraler Punkt ist. Aber es hätte sich in der Kultur des Miteinanders etwas ändern lassen können. Diese dramatische Blockbildung, die wir bis heute im Prinzip zu beobachten haben, hätte sich möglicherweise verhindern lassen. Der Westen hat am Beginn der Wiedervereinigung einen „Osten“ und auch einen „Ostdeutschen“ konstruiert, den es so nie gab – und den gibt es auch heute nicht. Aber so eine Konstruktion ist in den historischen Prozessen politisch notwendig, damit man überhaupt Strukturen übertragen kann. Ohne eine Hierarchie würde das nicht funktionieren: Eine Hierarchie zwischen den Machern, dem Vorbild, an dem sich alles ausrichtet, und den „Anderen“, die sich danach zu richten haben. Wir reden hier über „Othering“. Damit Macht- und Herrschaftshierarchien nicht außer Kontrolle geraten, muss man solche nicht-existenten Gebilde konstruieren – und der „Osten“ und „Ostdeutschland“ sind solche Gebilde, die man homogenisiert und bei denen man so tut, als ob das alles eine große Masse wäre.

Ich könnte mir vorstellen, dass in so einer Verfassungsdebatte viel sichtbarer geworden wäre, wie unsinnig das eigentlich ist, dass man die Menschen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg in einen Begriff zwingt. Eine Verfassungsdebatte hätte schon von Anfang ganz andere Verbindungslinien, meinetwegen zwischen Schwerin und Hamburg, Rostock und Flensburg oder Gera und Regensburg herstellen können. Das heißt, man hätte andere kulturelle Linien ziehen und Gemeinsamkeiten aufdecken können. 

Dass eine gemeinsame Verfassung am Ende nicht zustande kam, hängt auch mit diesen Herrschaftsstrukturen zusammen, die eine Verfassungsdebatte eigentlich umgehen wollten. Die Verfassungsdebatte ist damit letztlich ein Opfer dieser Macht- und Herrschaftsstrukturen geworden. Wenn Sie sich mal die Debatten ansehen, die in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat gelaufen sind, verlief das dort ähnlich wie in der Hauptstadt-Debatte, die ja auch nur gerade so zugunsten Berlins kippte, weil ein paar Leute ein Machtwort gesprochen hatten. An der Hauptstadtdebatte sieht man sehr genau, dass parteiübergreifend ein Großteil der altbundesdeutschen Beteiligten der Meinung war, dass alles so bleiben muss, wie es ist, dass sich hier nichts ändern darf – und dass sich etwas für die anderen ändert, das sei gerecht und doch so gewollt! Denn: Nicht nur das System war scheiße, die Menschen aus diesem System sind es irgendwie doch auch. Und das ist jetzt nicht nur eine Polemik meinerseits; schauen sie sich beispielsweise die Corona-Debatte an, die läuft global nach ähnlichen Mustern.

Die Menschen im Westen haben bisher immer geglaubt, dass die Krisen im Rest der Welt dort mit einer gewissen Begründung auftreten, und dass diese Krisen dort auch richtig sind: Weil die Systeme und die Menschen, die dort leben, diese Krisen verdient haben – weil sie unfähig sind, sie zu verhindern. Jetzt trifft den Westen auch mal so eine Krise, und die Menschen sind fassungslos, dass ihnen so etwas auch mal passiert. Deswegen sehnen sich jetzt alle danach, dass es irgendwie wieder so wird, wie vorher – weil sie sich gar nicht vorstellen können, dass sich in ihrem Lebensfeld auch mal irgendetwas radikal verändert. Solange die Menschen nicht verstanden haben, dass es so etwas wie ein Leben davor eigentlich nicht mehr geben kann, solange haben sie auch die Krise nicht verstanden. Und so ähnlich verhielt es sich auch mit diesen Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Zuge der Wiedervereinigung.

Viele der politischen Probleme im Osten werden ja mit einem Misstrauen in die Eliten, das sozusagen ein Erbe dieser konstruierten Hierarchiegefälle und auch der Eliten-Rekrutierung ist, in Verbindung gebracht. Das heißt, eine Verfassungsdebatte hätte schon durch die Entstehung einer anderen Kultur des Miteinanders dieses Hierarchiegefälle – und damit auch die entsprechenden politischen Probleme, die wir heute haben – verhindern können?

Verhindern – nein! Abmildern – schon eher. Das ist schwierig zu beantworten, weil das, was sich im Osten abspielt, ja keine rein ostdeutschen Phänomene sind. Da können Sie nach Polen schauen, oder nach Ungarn, in die Slowakei – dort finden Sie überall ähnliche Phänomene, genau wie den USA, auf den Philippinen oder in Brasilien, wo sich überall solche Bewegungen entfalten. Natürlich haben die alle ihre spezifischen historischen Hintergründe. Ich würde nicht sagen, dass diese völkisch-rassistische AfD durch eine Verfassungsdebatte nicht gekommen wäre, das wäre völliger Quatsch und auch historisch unzutreffend.

Aber ich nehme an, dass sie anders gekommen wäre. Vielleicht hätte man diese krassen Unterschiede, die wir im Osten beobachten – dieses totale Unverständnis gegenüber der repräsentativen Demokratie – nivellieren können. Den Neofaschisten von der AfD hat man es letztendlich leichtgemacht, weil im Osten so ein tiefes Unverständnis gegenüber der repräsentativen Demokratie herrscht. Wenn man diese nicht versteht, ist es nur noch ein ganz kurzer Schritt hin zum Bashing von Eliten, dem Bashing von „Leitmedien“ und alledem, was die immer so vor sich her brabbeln. Ich glaube nicht, dass man das hätte verhindern können – denn dafür ist in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren in Europa einfach auch auf zu vielen anderen Ebenen viel zu viel schiefgelaufen – aber man hätte das im Osten vielleicht etwas entdramatisieren können.

Wenn man sich jetzt überlegt, dass mindestens ein Viertel der Bevölkerung im Osten, wenn nicht mehr – ich glaube, es sind eher 40 Prozent – für dieses Gedankengut anfällig ist, und damit meine ich, sich vorstellen zu können, die AfD zu wählen und das zu unterstützen, also fast jeder Zweite, dann haben wir es aber ohnehin mit ganz anderen Problemen zu tun.

Sie sagen, eine gemeinsame Verfassung zweier deutscher Länder hätte sich nicht grundlegend vom aktuellen Grundgesetz unterschieden – aber hätte eine gemeinsame Verfassung nicht auch Vorteile gegenüber unserem Grundgesetz gehabt? Wäre zum Beispiel der ökologische Gedanke, dem damals auch viele in der DDR-Opposition gefolgt sind, heute nicht zum Beispiel Bestandteil einer solchen Verfassung?

Ich glaube, wenn man jetzt eine Verfassungsdebatte führen würde, wäre die Bereitschaft, ökologische Grundziele unserer Gesellschaft, Tierrechte, Genderfragen, Antidiskriminierungsfragen und so weiter und so fort in die Verfassung aufzunehmen, höher, als sie das noch vor dreißig Jahren war. Insofern wäre eine Verfassungsdebatte eine Chance. Denken Sie etwa daran, dass im Grundgesetz immer noch der Begriff „Rasse“ vorkommt – jeder weiß, dass es keine menschlichen Rassen gibt, das steht schon in UNO-Dokumenten von vor über 70 Jahren drin! – und trotzdem steht er immer noch in unserem Grundgesetz. 

Aber noch mal: So eine Verfassungsdebatte, wie ich sie mir heute vorstelle, ist weniger ein juristischer Prozess, was natürlich die Juristen irritiert; die glauben, Verfassungsfragen sind allein ihre Angelegenheit. Verfassungsfragen sind Fragen aller Bürger*innen. Das ist eine gesellschaftspolitische Debatte. Viele Demokrat*innen in unserem System, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern überall, sind sehr stark verunsichert durch das Aufkommen der rechtsradikalen neofaschistischen Bewegung, durch den Populismus und die sozialen Medien, weil gerade Rechtsaußen sich diese zu Nutzen macht. Und wenn man sich aktuell umblickt, kann man ja schon ein bisschen verzweifeln und denken, man ist nur noch von Honks umgeben. [Im Autorisierungsprozess dieses Gesprächs, der unter den Vorzeichen der globalen Proteste nach dem Mord an George Floyd stattfand, ergänzte Kowalczuk schriftlich: „Ich redigiere das Interview am 6.6.2020 und möchte das angesichts der weltweiten Anti-Rassismus-Demos etwas relativieren.“, Anm. d. Red.)

Ich glaube, dies könnte man in einer Verfassungsdebatte auffangen, indem man zeigt: Wir, die Demokrat*innen, sind immer noch in der Mehrheit, und zwar in einer deutlichen Mehrheit. Wir stehen alle hinter dem demokratisch-freiheitlichen System, und auch, wenn wir gerade vielleicht nicht alle wahnsinnig zufrieden damit sind, haben wir eben keine bessere Idee – und deswegen müssen wir dieses System besser machen. Durch eine Verfassungsdebatte kann man, glaube ich, auch so etwas wie einen Schulterschluss hinbekommen und zeigen, dass wir hier eine Basis haben, auf der wir aufbauen können, und die wir uns nicht von diesen ganzen Vollidioten zerstören lassen. Und dass die zugleich ein klare Kante gegen ihr „Wir-Gerede“, ihre Anmaßung im Namen einer Mehrheit sprechen zu können, bekommen.

Das wird „die“ nicht irritieren, könnte aber die Demokrat*innen selbstbewusster machen und könnte dazu beitragen, dass endlich in der Öffentlichkeit aufgehört wird, über jeden AfD-Scheiß, jede Aluhut-Verirrung und jeden Pegida-Mist zu berichten, als hänge davon der Weltfrieden ab. Vieles davon ist erst durch die mediale Dauerberichterstattung großgemacht worden. Ich wünschte mir manchmal, die würde  man einfach machen lassen und nicht darüber berichten. Denn in der Mediengesellschaft hat etwas, worüber nicht berichtet wird, praktisch nicht stattgefunden. Sheldon Cooper würde das am Beispiel von Schrödingers Katze erklären.

Glauben Sie, dass die Corona-Krise beziehungsweise die anschließende Wirtschaftskrise so etwas wie einen Möglichkeitsraum für so eine Debatte eröffnen wird?

Die intellektuellen Kapazitäten für so eine Debatte sind unter den gegeben Umständen nicht vorhanden. Ich könnte mir aber vorstellen, dass nach der Krise die Fragen, die bereits vorher breiter diskutiert worden sind – in was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben wollen, was muss sich dafür verändern und was ist eigentlich schiefgegangen in den vergangenen Jahren – wieder aufbrechen werden. Ich glaube, dass die Forderung im Raum stehen wird, nicht einfach zur alten Tagesordnung zurückkehren, sondern darüber nachzudenken, wie bestimmte neoliberale Tendenzen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, rückgängig zu machen sind. Und dann sind wir in Verfassungsfragen.

Wenn wir jetzt so eine Verfassungsdebatte und den Bedingungen, unter den wir leben, also mit den sozialen Medien und der Möglichkeit, von außen mit diesen Medien zu interferieren und so weiter führen würden – würde das wirklich das Land zusammenbringen und diese Blockbildung überwinden? Oder würde das unter den Medienbedingungen, die wir haben, nicht eher zu einer noch viel größeren Spaltung führen, wenn wir jetzt solche Grundsatzfragen in der Gesamtgesellschaft diskutieren würden?

Ich weiß es natürlich auch nicht. Meine Hoffnung wäre, dass das eher zum Zusammenhalt führt. Oft haben die Schreihälse und die irrationalen Typen in Debatten das Sagen – und das könnte man in so einer Debatte vielleicht umdrehen. Mit der Bielefelder Historikerin Christina Morina habe ich ein Projekt angeschoben, in dem es um genau diese Fragen geht, solche Debatten praktisch im Land in der Breite exemplarisch zu führen. Was uns dabei als Vorbild dient, ist die irische Verfassungsdebatte von 2018. Die war ja ein großer Erfolg und hat in dem katholischen Irland dazu geführt, dass das Abtreibungsverbot und die Bestrafung von Blasphemie gefallen sind, durch exemplarische, so genannte Stellvertreter-Debatten.

Man weiß im Vorfeld natürlich nie, wie so etwas ausgeht, aber diese Offenheit ist auch das Schöne daran. Ich glaube jedenfalls, dass so eine Debatte eher positive Effekte hätte. Dazu muss ich freilich auch ehrlicher Weise sagen, dass sich so eine Debatte aus einer Position ohne politische Verantwortung leicht vorschlagen lässt; wenn man die Verantwortung für die tatsächliche Debatte tragen muss, ist man mit solchen Forderungen in aller Regel vorsichtiger.

In den letzten zwei bis drei Jahren gab es ja aus einer, ich würde sagen, „kosmopolitisch-linken” Strömung heraus den Versuch, das Grundgesetz mehr in den Vordergrund zu stellen. Glauben Sie nicht, dass einer Verfassungsdebatte deswegen nicht schon allein aus Teilen des linken Lagers ziemlicher Gegenwind entgegenkommen würde, wo man dem Grundgesetz so eine zentrale Rolle als „tolles Dokument“ zuschreibt – wäre da also überhaupt Raum für so eine Debatte?

Ich war schon überrascht, dass die Idee nach einem Artikel in der Süddeutschen von mir vor allem von den „Reichsbürgern“ okkupiert wurde. Die haben dann gleich fabuliert, dass ich nun einer von ihnen geworden wäre. Das haben sie dann allerdings auch wieder schnell aufgegeben. Bei den Linken hatte ich so eine Art der Verfassungsdebatte gar nicht so mitbekommen, muss ich ehrlich sagen.

Meine Idee wäre eher eine andere: Auf der einen Seite haben wir Anfang der 90er-Jahre alle irgendwie geglaubt, dass das Nationale sich aufheben würde. In der Ecke, aus der ich komme, haben alle geglaubt, das Nationale würde jetzt in Europa aufgehen. Deswegen waren wir auch alle so große Befürworter davon, dass die Polen, die Ungarn, die Tschechen und die Balten so schnell wie möglich nach Europa kommen, also in die EU aufgenommen werden. Das war ein alter Traum – und dieser Traum ist wahr geworden und dann gleich wie eine Seifenblase geplatzt, weil alles ganz anders geworden ist. Eher mussten wir uns so eine Art klassischen imperialen Überdehnungsprozess ansehen und feststellen, dass das Nationale sich eben nicht in Luft aufgelöst, sondern dass sich zum Beispiel auf dem Balkan, aber nicht nur dort, ein Renationalisierungsprozess vollzogen hat. Nation und Regionales haben in der beschleunigten Globalisierung einen Stellenwert erhalten, den kaum jemand vorhergesagt hatte.

Europa hat meines Erachtens neben vielen strukturellen Mängeln das Problem, dass es keine Verfassung gibt. Das heißt unter anderem auch, dass die EU keine Sanktionsmittel gegenüber ihren Mitgliedsstaaten hat. Wir haben ein problematisches Wahlsystem in der EU, und neben vielen anderen Problemen haben wir jetzt auch noch solche Autokraten mit Hang zur Diktatur wie Orbán oder Kaczyński, denen gegenüber die Europäische Union fast machtlos ist. Und ein Grund dafür ist, glaube ich, auch die fehlende Verfassung. Da wäre meine Hoffnung, wenn Deutschland es hinbekäme, sich eine moderne neue Verfassung zu geben, dass das auch ein Signal nach Europa sein könnte, weil so eine Verfassung ohnehin auch die europäische Idee aufgreifen müsste. Dann könnte Deutschland als eines der großen Geberländer als Vorbild vorangehen.

Zu guter Letzt wollte ich Sie darum bitten, auf Bernhard Schlink zu reagieren, mit dem ich über Ihre Forderung nach einer neuen Verfassungsdebatte gesprochen habe und der in den 90ern selbst zu den Befürwortern von Artikel 146 gehörte. Schlink sagte, dass, nachdem die DDR-Bürger*innen sich gegen eine gemeinsame Verfassung und im Prinzip für die „Übernahme“, die sie sowie die BRD sich angenehmer vorgestellt hätten), entschieden hätten, „[…] eine neue Verfassung des wiedervereinigten Deutschland erledigt [war], nicht als gut gemeintes Projekt, aber als Antwort auf eine Suche, einen Wunsch, ein Bedürfnis des Volks nach einer neuen rechtlichen Gestalt seiner politischen Existenz.” Ist damit die Verfassungsdebatte also erledigt? Welche Legitimation hätte eine erneute Debatte? Kann man die wirklich noch mal aufmachen?

Ich verstehe schon, was er sagt, aber das ist natürlich historisch gesehen nicht korrekt. Die Wahl am 18. März war eine Wahl – und nicht das, als was wir sie als Gesellschaft und als Historiker*innen immer wieder interpretiert haben, also als ein Plebiszit über eine bestimmte Form der Wiedervereinigung. So wurde das zwar damals interpretiert, so interpretieren wir das heute noch, und so können Sie das auch in meinen Büchern lesen, aber genau genommen ist das natürlich historischer und juristischer Quatsch. Das muss man so deutlich sagen. Das zweite ist, dass die führenden Verfassungsrechtler der Bundesrepublik, ob konservativ, ob links, damals unisono der Meinung waren, wir bräuchten jetzt eine Verfassung, ganz klar. Das geht aus den Verfassungsdebatten damals ganz klar hervor. Dieser Meinung war, was viele nicht wissen, anfangs sogar auch Helmut Kohl.

Das, was Bernhard Schlink sagt, ist also historisch nicht ganz richtig, aber ich verstehe das politisch natürlich und als Nachbetrachtung durchaus, aus der heraus ja viele so, ich selbst auch, argumentiert haben. Eine Verfassungsdebatte heute zu führen, hat mit dieser Frage darüber hinaus auch gar nichts mehr zu tun. Heute bräuchte man die meines Erachtens nicht unter Bezugnahme auf 1990 führen, sondern unter Bezugnahme auf die Frage: In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? In welcher Verfassung wollen wir leben? Unsere Verfassung ist ein zerstückeltes Flickwerk, das eh nur auf Zeit angelegt war. Lasst uns deswegen endlich in eine große Gesellschaftsaussprache gehen. Darum geht es: Um eine Gesellschaftsaussprache – nun mit Corona inmitten einer rassistischen Welt um so mehr!

Sehen Sie irgendwelche natürlichen Verbündeten für diese Forderung, die in das selbe Horn blasen wie Sie?

Ich kenne natürlich einen Haufen Leute, die das ganz ähnlich sehen. Ich weiß aber auch, dass es viele gibt, die da skeptisch sind und kenne wiederum viele Leute, auch in hohen politischen Ämtern, unabhängig von ihrer Einstellung dazu, die darüber gern öffentlich debattieren würden.

Ich glaube, dass man sich bei dieser Verfassungsfrage einerseits von der Wahlarithmetik, und andererseits von den Mehrheitsverhältnissen, die man jetzt aktuell so hat, loslösen muss. Ich glaube, insgesamt wird man in allen politischen beziehungsweise in allen demokratischen Lagern sowohl eine größere Gruppe finden, die dafür ist, als auch größere Gruppen, die dagegen sind. Das ist so ähnlich wie mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Da finden Sie ja auch Befürworter und Gegner in allen demokratischen Lagern. Das Parteibuch spielt dabei oft gar keine Rolle. In der Verfassungsdebatte sollte man den Elefanten im Raum ansprechen – die Angst davor, dass die Debatte in eine politische Richtung läuft, die einem nicht passt. Ich habe diese Angst nicht, weil ich daran „glaube“, dass wir, die Demokrat*innen, in der Mehrheit sind. 

Das Urteil von Schlink nach der Forderung über eine neue Verfassungsdebatte war: „Heute wären eine neue Verfassung und eine Debatte über ein neue Verfassung reine Kopfgeburten. Das Zusammenwachsen braucht anderes: Interesse aneinander, Freude aneinander, Austausch untereinander, Geduld miteinander.“ Kann man wirklich auf mehr als einen solchen Prozess des Zusammenwachsens hoffen – oder ist der nicht in den letzten dreißig Jahren gescheitert?

Also, Verfassungsdebatten sind fast immer Kopfgeburten – die dann aber mit Leben erfüllt werden können. Wenn ich von einer Gesellschaftsaussprache spreche, meine ich, dass man Mechanismen entwickeln muss, wie diese Debatte wirklich in die Gesellschaft getragen werden kann. Das dürfen keine intellektuellen Scheindebatten werden. Das Projekt von Christina Morina und mir ist ein Beispiel dafür, die Bürgergespräche der Ministerpräsidenten in den vergangenen Jahren ein anderes. Es geht darum, mit Diskussionen in alle möglichen sozialen Kreise und Milieus vorzudringen. Da gibt es in Deutschland noch viel Luft nach oben.

Die Idee einer neuen Verfassungsdebatte ist zudem nicht so sehr eine Frage der Aussöhnung zwischen Ost und West – der Dampfer ist abgefahren. Diejenigen, bei denen das bis jetzt nicht angekommen ist, bei denen wird das bis zu ihrem Lebensende nicht mehr angekommen, und bei den Unter-Dreißigjährigen spielt dieses Thema keine große Rolle mehr. Der Punkt ist vielmehr, dass wir in der Gesellschaft insgesamt ein hohes Potenzial an Unzufriedenheit auf der einen Seite und ein großes Potenzial von Unsicherheit auf der anderen Seite haben. Und ich denke darüber nach, wie man das besser auffangen kann – wie man die Unsicherheiten schleifen und die Unzufriedenheit besser kanalisieren kann – um eine größere Akzeptanz unseres Gesellschaftsmodells zu bekommen.

Vor dem Hintergrund, dass es den Menschen in der Bundesrepublik sozial-materiell gesehen noch nie so gut ging wie heute und trotzdem die Unzufriedenheit – und besonders im Osten – so groß ist, und man dann noch sieht, dass die Bundesrepublik nicht mehr das ist, als was sie viele über die Jahrzehnte hinweg angesehen haben – als eine weiße christliche Gesellschaft – wir sind keine weiße christliche Gesellschaft mehr, sondern sehr heterogen, sehr fragmentiert, sehr nicht-weiß, sehr nicht-christlich – vor diesem Hintergrund muss man darüber nachdenken, in was für einer Gesellschaft wir miteinander leben wollen und wie die strukturiert sein soll. Genau dafür erscheint mir eine Verfassungsdebatte ein gutes Mittel zu sein, weil sie eine Relevanz hat, weil man sie ernst nehmen muss, weil sie zu Ergebnissen führt und weil sie nicht im luftleeren Raum hängen bleibt. Sie ist ein Versuch, etwas aus dem Dilemma, in dem wir alle sitzen, zu machen. Und sie wäre der (utopische) Versuch, das von mir hier unüblicherweise beschworene „Wir“ mit Leben zu erfüllen, dass „Othering“ in unserer Gesellschaft durch Empathie füreinander aufzulösen, Räume zu bilden, die aus unserer Gesellschaft wenigstens ansatzweise und verfassungsgemäß eine Gemeinschaft erwachsen ließe.

Herr Kowalczuk, vielen Dank für das Gespräch.