Die Kritischen Mediziner*innen werfen der Charité vor, mit der anhaltenden Hofierung von Nazi-Verbrechern oder Eugenikern dem Berufsbild moderner Ärzt*innen zu schaden. Gerade in politisch schwierigen Zeiten müssten Mediziner*innen sich ihre besondere gesellschaftliche Verantwortung vor Augen halten

Der Sauerbruchweg führt einmal quer durch den Charité-Campus in Mitte, Medizinstudent*innen hören Vorlesungen im Sauerbruch-Hörsaal. Als Chirurg ist Ferdinand Sauerbruch in die Geschichte eingegangen, er gilt als Begründer der Brustkorb-Chirurgie. Die Ehrungen, die die Charité Sauerbruchs Namen zukommen lässt, täuschen darüber hinweg, dass er unter den Nationalsozialisten Menschenversuche bewilligt und die Weimarer Republik als verabscheuungswürdiges Kapitel der deutschen Geschichte abgetan hat. Sauerbruch ist nicht das einzige falsche Vorbild in der modernen Medizin. Dieser Gastbeitrag der Kritischen Mediziner*innen zeigt, warum eine kritische Neubewertung von Charité-Größen wie Sauerbruch oder auch Karl Bonhoeffer, dessen Name eine andere große Straße auf dem Campus ziert, dringend überfällig ist.

Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) ist bis heute einer der bekanntesten Chirurgen seiner Zeit. Durch spektakuläre Operationen und innovative Methoden machte er sich schon zu Lebzeiten einen Namen über die Fachwelt hinaus. Kriegsversehrten ermöglichte er nach Armamputationen mittels einer revolutionären Armprothese, dem sogenannten „Sauerbruch-Arm“, vormals ungeahnte Bewegungsfreiheit. Prominente Zeitgenossen wie Paul von Hindenburg, Max Liebermann oder Erich Ludendorff wollten von ihm behandelt werden. 1927 kam Sauerbruch als Leiter der Chirurgischen Universitätsklinik an die Charité, die sich bis heute mit seinem Namen schmückt.

Sauerbruchs Unterschrift machte Gräueltaten möglich

Vor dem Hintergrund der Verstrickung Sauerbruchs in die Verbrechen der deutschen Ärzt*innen unter dem NS-Regime erscheint diese Erinnerungskultur in einem ganz anderen Licht. Ende Mai 1943 nahm er an der dritten „Arbeitstagung Ost der beratenden Fachärzte“ teil, bei der es auch um Menschenversuche ging. Einer der Redner war der später zum Tode verurteilte Nazi-Verbrecher und Chirurg Karl Gebhardt. Der Jugendfreund Himmlers berichtete seinen Kollegen von grausamen Versuchen an Frauen des polnischen Widerstands im KZ Ravensbrück, denen man eitrige Wunden zufügte, um ein Antibiotikum an ihnen testen zu können. Viele der Frauen starben. Es kam zu einer „fachlichen“ Diskussion, an der sich auch Sauerbruch beteiligte.

Der Chirurg war aber nicht nur Mitwisser: Als Leiter der Fachsparte Medizin im Reichsforschungsrat, der zentralen Koordinierungsstelle nationalsozialistischer Forschung, war er für die Bewilligung der Anträge ebensolcher Menschenversuche verantwortlich. Ob Malaria- oder Senfgas-Experimente, mit Sauerbruchs Unterschrift wurden Gräueltaten möglich, die er offen befürwortete.

Sauerbruchs Verhältnis zum NS-Regime wurde in der Vergangenheit häufig als „ambivalent“ beschrieben. In der Tat trat Sauerbruch nie der NSDAP bei, Antisemitismus lehnte er ab. Trotzdem wird seine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus in seinen Reden nach ‘33 deutlich. Sauerbruch bekundete Sympathie für Hitler und dessen Politik über das „Dritte Reich“ hinaus. Im Zuge des Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 hat er Hitler persönlich kennengelernt. Für Sauerbruch vertraten die Nazis die „große Idee einer nationalen Erhebung“, er dankte ihnen für die „Umgestaltung des völkischen Lebens“.

Als deutschnational gesinnter Antidemokrat begrüßte Sauerbruch das Ende der Weimarer Republik, die für ihn einen „entwürdigenden Abschnitt deutscher Geschichte“ darstellte. Folgerichtig hat sich Sauerbruch in der Frühphase der NS-Zeit für die faschistische Kampagne gegen den Völkerbund einspannen lassen. Im Gegenzug wurde er mit Ämtern und Auszeichnungen bedacht.

Der „Geheimrat“ und „Generalarzt“ Sauerbruch war Täter und Sympathisant. In der alten Nervenklinik der Charité in Mitte lässt sich genau das in einer Ausstellung nachlesen, schon seit letztem November. Die Ausstellung wurde öffentlichkeitswirksam vom Vorstandsvorsitzenden der Charité eingeweiht und von vielen als Chance verstanden, die Geschichte um Sauerbruch und seine Rolle im Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Doch was wie der Beginn einer Aufarbeitung ausgesehen hat, erscheint nach einem knappen Jahr wie der verzweifelte Versuch, einen „Schlussstrich“ zu ziehen. Trotz allem wird Sauerbruch weiterhin unkommentiert geehrt, als Namensgeber einer Straße und eines Hörsaals, wie auch als Übervater der deutschen Chirurgie.

Auch Karl Bonhoeffer wurde Teil der menschenverachtenden Logik

Mehr kritische Distanz würde der Charité auch im Fall des Psychiaters Karl Bonhoeffer (1868-1948) guttun. Der Bonhoefferweg befindet sich direkt neben dem Sauerbruchweg; obwohl Bonhoeffers Verstrickung mit dem NS-Regime eine ganz andere ist als die Sauerbruchs, stellt auch diese Ehrung die Student*innen der Charité vor eine erinnerungspolitische Herausforderung.

Der Vater der hingerichteten Widerstandskämpfer Dietrich und Klaus Bonhoeffer zeigte sich zwar angewidert vom Auftreten der Nationalsozialisten, dennoch teilte er zentrale Aspekte seines Menschenbildes mit ihnen. In älteren Bonhoeffer-Arbeiten, etwa der sogenannten „Bettlerstudie“, konfrontiert er die Leser*innen mit purem Sozialdarwinismus. Für Karl Bonhoeffer waren Obdachlose „gewohnheitsmäßige soziale Parasiten“, in ihrer Gesamtheit eine „parasitäre Bevölkerungsschicht“. Diese Art von Pseudowissenschaft blieb nicht ohne gesellschaftliche Folgen.

Nachdem der Reichstag 1933 ein „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet hatte, begann Bonhoeffer in Eigeninitiative Fortbildungen zur Anwendung dieses neuen deutschen Sterilisationsgesetzes an der Charité auszurichten. Als „Erbgesundheitsobergutachter“ entschied er über die Zwangssterilisation psychisch kranker Menschen. Damit wurde Bonhoeffer Teil der menschenverachtenden Logik „wertem“ und „unwertem“ Lebens, eine Annahme, die den Dammbruch zur völligen ethischen Entgleisung der NS-Zeit einleitete. Auch nach dem zweiten Weltkrieg hat sich Bonhoeffer weiterhin für die Mittel der Eugenik und die Sterilisation „geistig Minderwertiger“ ausgesprochen.

Eugeniker als Vorbilder

Taugen Figuren wie Bonhoeffer also als Vorbilder für moderne Mediziner*innen? Bis nach dem Krieg ließ Bonhoeffer verlauten: „Der Weg der Sterilisationen war richtig!“ Und kein Nazi hat Sauerbruch dazu gezwungen, seine zahlreichen Reden zu halten und staatstragende Ämter zu bekleiden. Beide haben gegen fundamentale Grundsätze ärztlicher Ethik verstoßen und das primum nil nocere („Zuallererst nicht schaden“) mit Füßen getreten. Das sollte keine Ehrung, sondern kritische Auseinandersetzung zur Folge haben.

Straßennamen sind immer als eine Form der Ehrung oder Anerkennung zu verstehen. Kritischer Diskurs kann nicht auf oder unter Straßenschildern stattfinden. Die Umbenennung von Straßen hat deswegen wenig mit einer Geschichtstilgung zu tun, sondern lediglich mit der Frage, inwiefern wir Figuren als historische Vorbilder bewerten wollen. Durch die Diskussion um eine mögliche Umbenennung entsteht die Möglichkeit, Narrative aufzubauen, wie ärztliches Handeln auszusehen hat, jetzt und in Zukunft.

Wie Sauerbruch oder Bonhoeffer nehmen Ärzt*innen auch heute Einfluss auf das gesellschaftliche Klima und definieren Grenzen des Sag- und Machbaren. Rechtsmediziner*innen beteiligen sich an der fachlich und moralisch fragwürdigen Alterszwangsfestsetzung von minderjährigen Geflüchteten. Die Ärztin Kristina Hänel wurde verurteilt, weil sie auf ihrer Website über Abtreibungen informiert hat. Protest dagegen wird es vonseiten zentraler Gremien wie etwa dem Ärztetag nicht geben. Obwohl Ärzt*innen stets über eine mächtige Lobby verfügen konnten, haben sie sich in der Vergangenheit und Gegenwart immer wieder mit Verhältnissen arrangiert, die ihrem Berufsethos zuwiderlaufen. Für die NS-Zeit ist Sauerbruch da nur ein Beispiel unter vielen: Ärzt*innen stellten die Berufsgruppe mit den meisten Eintritten in die NSDAP.

Ärzt*innen müssen Haltung zeigen

Dazu passt, dass es immer noch überwiegend Charaktere wie Bonhoeffer oder Sauerbruch sind, die unser Bild von der Medizin bestimmen. Was ist mit all den Frauen, die teilweise gegen großen Widerstand Ärztinnen geworden sind? Oder mit Vertreter*innen aus der Krankenpflege, die schon immer einen mindestens genauso großen Anteil an der Genesung der Patient*innen hatten? Das sind die Vorbilder, die wir heute brauchen.

Die Arbeit der Ärzt*innen, die so nah wie keine andere an der menschlichen Existenz stattfindet, bedarf einer Haltung. Das wünschen wir uns von einer Universitätsmedizin, die anscheinend lieber Konzern als Fakultät wäre.

 

 

 

Autor: Marinus Fislage, 22, Medizin