Der Feminismus hat sich den vergangenen 30 Jahren radikal verändert und ist zum umstrittenen Kampfbegriff geworden. Im kontroversen Interview mit der UnAuf spricht Alice Schwarzer darüber, ob feministische Pornos noch etwas mit der Theorie von Beauvoir und Co. zu tun haben und reflektiert das Verhältnis der neuen Frauenrechtlerinnen zum politischen Islam. Welcher Feminismus wird die nächsten 30 Jahre prägen?
UnAufgefordert: Unsere Bundeskanzlerin hat im Interview mit der ZEIT gesagt, dass Frauen wie Sie die wahren Feministinnen sind, sie selbst sich aber nicht mit „falschen Lorbeeren schmücken“ möchte. Ist Angela Merkel Feministin?
Alice Schwarzer: Es gibt wenige Begriffe, die so belastet sind und so diffamiert werden wie der des Feminismus. Da muss man sich erst mal trauen, zu sagen: Ja, ich gehöre zu dieser fragwürdigen Sorte. In Amerika und Frankreich wäre das ja gar keine Frage. Aber Deutschland… das ist sehr rückständig in punkto selbstbewusste Frauen. Deswegen habe ich mir angewöhnt, das Leben der jeweiligen Frau anzusehen, egal, welches Etikett sie sich anheftet. Angela Merkel, die in der DDR aufgewachsen ist, die Physikerin war, also ganz selbstverständlich in einem für den Westen sogenannten Männerberuf gearbeitet hat, die dann einfach in die Politik gestapft ist und ordentlich Gegenwind gekriegt hat, so eine Frau führt natürlich ein gleichberechtigtes, ein feministisches Leben.
UnAuf: Das heißt, Feminismus ist mehr eine Praxis als ein theoretischer Begriff?
AS: Beides. Feminismus ist eine Praxis und seit über hundert Jahren auch eine Theorie mit einer stolzen Tradition. Doch der Feminismus wird – im Gegensatz zum Sozialismus – als Theorie nicht ernst genommen, immer wieder negiert und verwässert. Aber es gibt natürlich eine Theorie, es gibt eine Geschichte des Feminismus. Die Behauptung, Frauen seien geschichtslos, ist eine der größten Hürden de Emanzipation. Gleichzeitig wird der Feminismus von innen verzerrt. Es gibt ja sogar Frauen, die sich im Namen des Feminismus prostituieren. Das ist natürlich absurd.
„Die neue Generation will einen ‚sexy‘ Feminismus“
UnAuf: Ist es denkbar, dass eine bürgerliche Partei sich heute noch klar antifeministisch positionieren würde?
AS: Nein, das kann sich Anfang des 21. Jahrhunderts niemand mehr erlauben, offen antifeministisch zu sein. Was dem Feminismus des 20. Jahrhunderts zu verdanken ist. Gleichzeitig war die Verleumdung des kämpferischen Feminismus, der die Machtfrage stellt, in Deutschland nie so groß wie jetzt. Frau versucht sich jetzt an einem Feminismus light. Wir Pionierinnen, die die Machtfrage gestellt haben, haben uns einen gewissen Respekt erworben, aber nicht immer beliebt gemacht. Wir Feministinnen haben zwar in den 1970er Jahren die wahre sexuelle Revolution angezettelt, haben auch von der Lust der Frauen geredet und eine kommunikative Sexualität gefordert – aber ein „sexy Feminismus“ – was soll das sein? Sich mal wieder auf Papas Schoß setzen? Nun kommen jüngere Medien-Feministinnen, die einen sogenannten „sexy Feminismus“ propagieren. Mal sehen, wie weit das führt. Letztendlich kommt es immer an den Punkt, an dem man die Machtfrage stellen muss. Mit „Medien-Feministinnen“ meine ich Frauen, die nur dank der Medien als „Feministinnen“ gelten. Nicht dank politischer Taten.
UnAuf: Können Sie denn eine Partei empfehlen, die eine Feministin wählen sollte?
AS: Nein. Selbstverständlich bin ich, wenn man in diesen groben Kategorien denkt, die aber ihre Bedeutung mehr und mehr verlieren, der Linken zuzuordnen. Und natürlich war ich ganz früher eine traditionelle SPD-Wählerin, das ist lebensgeschichtlich so. Das hat sich jetzt aber aufgelöst, die meisten Wähler und Wählerinnen sind keine Stammwähler mehr, sondern orientieren sich jetzt daran, wer jeweils die Interessen, die ihnen besonders wichtig sind, vertritt. Aber Feministinnen haben kein Vaterland und keine Partei. Und eine wahre Feministin kritisiert natürlich grundsätzlich alle, und im Zweifelsfall die Parteien des linken Flügels stärker als die Konservativen, weil wir von denen mehr erwarten. So ist ja auch die Frauenbewegung entstanden, aus der Frustration nach 1968 über die linken Machos.
UnAuf: Pussy-Positivtiy, Sex-Arbeit als Empowerment, feministische Pornos; das sind einige Schlagworte des Third-Wave-Feminismus, die an den Hochschulen hoch im Kurs stehen. Ist das noch Ihr Feminismus?
AS: Das hat mit Feminismus rein gar nichts zu tun! Wenn wir uns die feministische Tradition ansehen, ist natürlich immer klar gewesen: Frauen sind keine Ware. Eine Welt, in der man einen Schein hinlegen und dafür den Körper und die Seele einer Frau anfassen kann, ist eine inhumane Welt. Jetzt hat sich das Problem verschärft. Der Handel mit der Ware Frau ist Teil der organisierten Kriminalität und international mindestens so einträglich wie der Handel mit Waffen und Drogen. Das sind natürlich enorme Interessen, die dahinterstehen. Ich will gar nicht wissen, welche Gelder und wie viele Amigo-Gefälligkeiten in Berlin geflossen sind, als Rot-Grün 2002 diese elende Reform (ein Gesetz zur Legalisierung der Prostitution, Anm. d. Red.) verabschiedet hat, die die Handschrift der Pro-Prostitutions-Lobby trägt.
Deutschland ist da wie so oft auf einem Sonderweg: Wir haben die sogenannten „Rabenmütter“, wir haben die Teilzeitmütter – und wir haben die „freiwillige“ Prostitution. In unseren Nachbarländern gilt Prostitution als Verstoß gegen die Menschenwürde und Menschenrechte. Nach Aussagen aller Experten gibt es in Deutschland maximal drei bis fünf Prozent unabhängige Prostituierte. Das sind in der Regel studentische Gelegenheitsprostituierte oder Ex-Prostituierte, die heute einen „Salon“ führen, also andere Frauen die Beine für sich breit machen lassen. Der Rest kommt aus den ärmsten Ländern Europas und Afrikas. Es geht ja bei der Prostitution nicht um Sex, es geht um Macht. Männer kaufen Macht über Frauen und machen mit ihnen körperlich und seelisch, was sie wollen. Ja, so etwas formt doch unsere grauen Zellen, die der Frauen und auch die der Männer. Das macht alle Männer zu potenziellen Frauenkäufern – und alle Frauen zum gekauften Geschlecht. Dass es Menschen gibt, gar Feministinnen, die sagen, „Ich finde Prostitution geil“, das ist der nackte Zynismus. Was denn eigentlich noch? Das ist so, als ob Neoliberalisten sagen würden: „Ich finde Klassenkampf sexy.“
UnAuf: Eine andere Konfliktlinie ist ja die Frage, ob Kopftuch und Feminismus zusammengehen.
AS: Das kommt darauf an, wo. Wir sehen, was heute in den von Islamisten beherrschten Ländern los ist, da stellt sich für die Frauen die Frage gar nicht. Gerade ist im Iran eine Anwältin, die Frauen gegen den Kopftuchzwang verteidigt hat, zu 33 Jahren Gefängnis und 148 Peitschenhieben verurteilt worden, Nasrin Sotoudeh. Und diese Anwältin trägt natürlich Kopftuch, die kann sich gar nichts anderes erlauben. Etwas anders ist es in Deutschland, vor allem bei den Konvertitinnen. Diese Frauen sind Propagandistinnen des politischen Islams. Das sind keine Frauen, die aus Sitte oder Tradition verschleiert sind. Das Kopftuch ist seit dem Sieg Khomeinis im Iran 1979 ein politisches Symbol und die Flagge der Fundamentalisten. Unabhängig davon unterscheide ich zwischen den persönlichen Gründen einer Frau, ein Kopftuch zu tragen, und der politischen Bedeutung des Kopftuches.
UnAuf: Werden wir in 30 Jahren denn mehr Frauen im öffentlichen Dienst mit Kopftuch sehen?
„Natürlich bin ich für ein Burkaverbot“
AS: Das will ich doch nicht hoffen! In einer Demokratie wie Deutschland bin ich für ein Kopftuch-Verbot im öffentlichen Dienst. Da wird der säkulare Staat repräsentiert, der natürlich neutral sein muss. Und selbstverständlich bin ich für ein komplettes Burkaverbot. Das verstößt doch gegen jede Menschenwürde, dass eine Frau öffentlich unter einem solchen Stoffhaufen durch die Gegend wankt. Doch auch das Kopftuch sagt uns: Der Körper der Frau ist Sünde, er muss bedeckt werden. Hätten wir vor 30 oder 40 Jahren gedacht, dass wir heute ernsthaft über so etwas reden würden? Gleichzeitig geht es mir immer um den Respekt vor den Menschen. Ich werde einer Türkin, die, aus welchen Gründen auch immer, Kopftuch trägt, keine moralischen Vorhaltungen machen, sondern höchstens mit ihr diskutieren. Aber ich werde nicht unwidersprochen zulassen, dass im Namen des Selbstbestimmungsrechtes der Frauen islamistische Propaganda für das Kopftuch betrieben wird.
UnAuf: Sie vertreten ja schon lange eine universalistische Position; vor fast 50 Jahren haben Sie gesagt:„Nicht unsere Integration ist wünschenswert, nicht die Vermännlichung der Frauen, sondern die Vermenschlichung der Geschlechter.“
AS: Ja. Dafür habe ich mich 1975 nicht bei allen feministischen Schwestern beliebt gemacht.
UnAuf: Diese Position, ist die heute in bestimmten linken Kreisen noch salonfähig?
AS: Nein, ist sie nicht. Das ist ein furchtbarer Sieg des mit Milliarden Petro-Dollars aus Saudi-Arabien und Co. finanzierten Islamismus, der seit mindestens einem Vierteljahrhundert unwidersprochen, auch im Westen, die Bildungssysteme, die Universitäten und die Schulen unterwandert hat. Und der sich, zynischerweise, kurzgeschlossen hat mit der Kapitalismus- und Imperialismuskritik. Die radikale Linke und die Islamisten sind international in Kontakt. Und es ist jetzt schick in diesen Kreisen, im Namen einer falschen Toleranz „Ja“ zum Kopftuch zu sagen. Meine algerische Freundin Khalida Toumi-Messaoudi (algerische Politikerin, Feministin und Menschenrechtlerin, Anm. d. Red.) sagt, dass sie diese Art von Kulturrelativismus als sehr verachtend empfindet. Dass man sagt: „Wir sind nicht so, aber bei denen ist das eben so.“ Es ist einfach die brutalst mögliche Betonung des Unterschiedes der Geschlechter und geht gegen alles, was eine Feministin wie ich vertritt. Mich interessiert die Annäherung, die Gleichheit, die Geschwisterlichkeit, damit stehe ich uneingeschränkt in der Tradition von Simone de Beauvoir, die ja, glaube ich, im „Anderen Geschlecht“ mit diesem Satz endete: Mit der Hoffnung auf eine geschwisterliche Zukunft.
UnAuf: Glauben Sie, dass in dieser fragmentierten Landschaft, wo der Begriff „Frau“ ohnehin nur noch als diskursive Zuschreibung gilt, die „Frauenbewegung“ als gemeinsame Klammer für eine emanzipatorische Bewegung überhaupt noch denkbar ist?
AS: Nein, in der Form sicherlich nicht. Eine „Frauenbewegung“ gibt es ja auch seit den 80ern nicht mehr. Was macht eine Bewegung aus? Was tun?
Auf jeden Fall sind die Universitäten in einem dramatischen Zustand. Es herrscht Beliebigkeit und Kulturrelativismus, und der Diskurs ist stark ideologisiert. Man kann gar nicht mehr frei denken. Es gibt tausend Denkverbote. Ich hatte schon immer Lust, genau das zu sagen, was man nicht sagen darf, schon aus einem inneren Widerstand her. Auch innerhalb der Frauenbewegung. Ich weiß noch, wie ich einmal auf einer rigiden Veranstaltung im Berlin der 70er Jahre dachte: Ich stelle mich gleich auf einen Tisch und strippe. Obwohl ich gar keine Neigung zum Strippen habe. Kennt ihr dieses Gefühl? Ich konnte manchmal einfach nicht mehr. Diese ganzen Gebote und Verbote! Das ist also nicht neu. Aber diese Denkverbote haben sich jetzt via soziale Medien weltweit etabliert. Ich befürchte, da gehen jetzt mehrere akademische Generationen verloren, die entpolitisiert sind und denen eigenständiges Denken verboten wird. Das ist natürlich weit über die Sache der Frauen hinaus beängstigend.
„Ich brauche keine Nachfolgerin“
UnAuf: Sie gelten ja als Aushängeschild des Feminismus in Deutschland, seit Jahrzehnten. Können Sie sich, auch vor dem Hintergrund dieser Verwerfungen, eine Nachfolgerin für diese Rolle vorstellen?
AS: Manche Jüngeren scheinen zu glauben, so wie es das Kanzleramt gibt, gibt es den Thron von Alice Schwarzer. Doch ich fürchte, dass ich enttäuschen muss. Wenn die Schwarzer weg ist, ist ihr Platz auch nicht mehr da. Es war ein historischer Zufall, dass ich im richtigen Moment den „Kleinen Unterschied“ (1975 hatte Schwarzer mit ihrem Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ eine nachhaltige Debatte über sexuelle Unterdrückung und die Rolle von Frauen in der Öffentlichkeit ausgelöst, Anm. d. Red.) geschrieben habe. Doch ich bin nicht nur Feministin, ich bin eine politische Journalistin, ich bin Fernseh-erfahren, habe mein eigenes Blatt gemacht und seit 40 Jahren eine eigene Stimme. Die Rolle der Feministin Nr. 1 ist mir von den Medien zugeschrieben worden. Und das ist auch nicht gut, dass man da seit Jahrzehnten nur eine Person für so eine vielfältige Sache, für die Tausende aktiv sind, stehen hat.
Und im Übrigen ist das für die eine Person auch nicht gesund. Ich soll also auch für den ganzen Quatsch, der im Namen des Feminismus veranstaltet wird, verantwortlich sein. Das ist anstrengend. Aber ich habe natürlich auch sehr viel Bestätigung erfahren. Wenn Sie mit mir durch die Straßen gehen, würden Sie erleben, wie oft ich angesprochen werde, von Frauen meiner Generation und auch von jungen Frauen, die sagen: „Durchhalten!“ Aber das ist eine einmalige historische Konstellation, das kann sich nicht reproduzieren. Was wir heute brauchen, ist eine Vielfalt von Frauen – und hoffentlich auch Männern an unserer Seite – die für den Feminismus eintreten. Ich brauche keine Nachfolgerin, meine Nachfolgerinnen sind die Millionen Frauen, bei denen ich das unverschämte Glück hatte, sie ermutigen zu können. Und auch die vielen Männer, die keine Machos sein wollen.