Das Beispiel einer Gemeinschaftsschule in der Neuköllner Gropiusstadt zeigt, wie die Politik des Berliner Senats die Zukunft einer ganzen Generation aufs Spiel setzt. Ein Montag an einer Berliner Brennpunktschule
Im Klassenraum der 7c herrscht Stille. Es ist halb zehn. Vor den Schüler*innen liegt ein dreiseitiger Test. Mehr oder weniger gut vorbereitet geben sie ihr Wissen über die Entdeckung und Eroberung Amerikas zum Besten. Ein Junge wirkt, als sei er fehl am Platz. Er hat seine rote Regenjacke nicht ausgezogen und schreibt als einziger nicht. Der Siebtklässler sitzt in der letzten Reihe am Fenster. Hinten am Eingangstor steht ein Mann vom Sicherheitsdienst, der eingestellt wurde, um schulfremde Jugendliche davon abzuhalten, auf dem Schulhof rumzulungern. Ansonsten ist auf dem betonierten Hof vor der Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg am Rande der Neuköllner Gropiusstadt niemand zu sehen. Dann ist Abgabe. Der Junge hat keine einzige Frage des Tests beantworten können.
Nach der zweiten Stunde sieht man ihn über den Flur huschen und in einem großen Raum verschwinden. Dort steht nichts außer einem abgewetzten Sofa auf dem einige Mädchen sitzen und sich gegenseitig Fotos auf ihren Handys zeigen. Über eine Box läuft laut aggressiver Hip Hop. Dienstags und Donnerstags findet hier die Tanz-AG von Herrn Grimm statt. In den Pausen wird er als Aufenthaltsmöglichkeit geöffnet. Der Junge hockt mit einem Freund in einem kleinen Hinterzimmer auf einigen Paletten, die wegen Bauarbeiten hier zwischengelagert werden. Sein Name ist Samer*. Im Alter von zehn Jahren ist er mit seiner Mutter aus Palästina vor Krieg und Perspektivlosigkeit geflohen. 30 Tage waren sie zu Fuß und mit dem Boot unterwegs. Das ist jetzt drei Jahre her. Seit eineinhalb Jahren besucht er die Gemeinschaftsschule in Neukölln. Samer hat Schwierigkeiten, sich auszudrücken. Zukunftspläne hat er keine. Programmieren findet er aber ganz cool.
Dass Samer bei dem Test in der letzten Stunde nichts beantworten konnte, ist seinem Klassenlehrer Robin Grimm natürlich aufgefallen. Aber in solchen Situationen seien ihm die Hände gebunden, sagt er, nachdem alle Schüler*innen den Pausenraum, der auf sein Bestreben hin eingerichtet wurde, verlassen hatten. Der 31-Jährige kam nach dem Lehramtsstudium in Jena 2014 nach Neukölln. Der schlanke, etwa 1,75 m große Sport- und Geschichtslehrer, trägt einen akkurat frisierten Bart und ein eng geschnittenes Polo. Seine thüringische Herkunft hört man ihm an. Nach den ersten beiden Stunden Geschichte bei der 7c steht an diesem Montag in der dritten und vierten Stunde Sport bei einer neunten Klasse an. Auf dem Weg zur Sporthalle wird Herr Grimm freudig von den wartenden Schüler*innen begrüßt. „Du siehst rischtisch breit aus, Herr Grimm“, sagt ein Schüler. Der Sportlehrer scherzt etwas herum und schließt die Sporthalle auf. Der Umgang mit den Schüler*innen ist sehr respektvoll. Herr Grimm benutzt arabische Wörter wie habibi und haram. Das scheint bei den Schüler*innen gut anzukommen, die zu über 80% einen Migrationshintergrund haben.
Ein Leben ohne Perspektive
Die Frage, was aus Samer wird, kann Herr Grimm nicht beantworten. Der Sportlehrer schließt die Tür der kleinen Lehrerumkleide auf und legt seinen Schlüsselbund auf den Tisch. Zu Samer könne er nur sagen, dass er wie so viele andere ein Opfer des Berliner Bildungssystems sei. Samer wird die Schule in naher Zukunft ohne Abschluss verlassen. Situationen wie die heutige seien keine Seltenheit. Samer ist nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen und den Stoff nachzuvollziehen, wie es nötig wäre, um die Berufsbildungsreife, den ehemaligen Hauptschulabschluss, nach der neunten Klasse zu erhalten.
Samer und seine Perspektivlosigkeit sind dabei kein Einzelfall. Allein in der 7c sind vier Jungs, die in den letzten Jahren nach Deutschland geflohen sind. Im gesamten siebten Jahrgang sind so viele Flüchtlingskinder auf vier Klassen aufgeteilt, dass man aus ihnen eine eigene Klasse machen könnte. Samer und die anderen waren zwar ein bis zwei Jahre in einer „Willkommensklasse“, um Deutsch zu lernen, doch für den Regelunterricht reicht es bei vielen noch nicht aus. Herr Grimm ist sauer auf den Senat und fühlt sich als Lehrkraft allein gelassen. Um Geld zu sparen, würden die Schüler*innen nahezu unvorbereitet in Regelklassen geschickt. Seit mit der Berliner Bildungsreform alle Schulformen unterhalb des Gymnasiums in der Integrierten Sekundarschule aufgingen, gebe es zu viele Leistungsniveaus innerhalb einer Klasse. „Die Inklusion von leistungsschwachen Schülern, vor allem von solchen mit Sprachschwierigkeiten, klappt bei dem derzeitigen Lehrermangel vorne und hinten nicht.“, sagt Herr Grimm, während er sich die Sportschuhe bindet.
„Wir werden dem Recht dieser Kinder auf eine gute Bildung nicht gerecht.“
Kinder von Politiker wird man hier nie finden
Nach dem Sportunterricht muss Herr Grimm zurück ins Hauptgebäude. Um 12 Uhr beginnt eine Teamsitzung aller Klassenlehrer des siebten Jahrgangs. Gesprächsthema sind einige Schüler, die regelmäßig negativ auffallen. Vor allem ein Fall ruft kollektives Kopfschütteln hervor. Der 14-jährige Yussouf* ist schon in der Vergangenheit wegen sexueller Nötigung von Mitschülerinnen aufgefallen und hat vor kurzem einen Mitschüler zusammengeschlagen. Die Zukunft des Jungen an der Schule ist ungewiss. Herr Grimm schaut wissend. In der Schwere war dies ein Einzelfall. Doch die Routine, mit der darüber geredet wird zeigt, dass die Lehrer regelmäßig mit solchen Vorfällen zu tun haben. Um das Opfer zu schützen, muss Yussouf in eine andere Klasse, bis über seine Zukunft entschieden ist. Eine Lehrerin bietet an, Yussouf aufzunehmen. Großen Schaden könne dieser bei ihr nicht anrichten, denn das Klassenklima sei sowieso kaputt.
„Wenn Sie die Politiker fragen, die die Schulreform vorangetrieben haben, dann finden Sie deren Kinder ganz sicher nicht an Brennpunktschulen wie unserer“, sagt Herr Grimm. Nach der Teamsitzung holt er sich bei der Tankstelle gegenüber eine Bockwurst mit Brötchen.
„Wer Brennpunktviertel wie Neukölln zulässt, darf sich nicht wundern, dass sich die Probleme nahtlos im Schulalltag fortsetzen. Hätte ich Kinder, würde ich mir für sie einen deutlich entspannteren Schulalltag wünschen.“
Ein Tag an einer Berliner Brennpunktschule zeigt eindrücklich, wie fahrlässig die Politik des Senats mit der Zukunft derjenigen umgeht, die die meiste Hilfe beim Start in ein selbstständiges und erfolgreiches Leben bräuchten. Herr Grimm plant, an der Gemeinschaftsschule zu bleiben. Die Arbeit mache ihm trotz allem großen Spaß. Deswegen trägt sie auch Früchte. Omar ist ein Beispiel dafür. Der Schüler aus Grimms 7c ist vor drei Jahren mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland geflohen und gehört zu den besten seines Jahrgangs. Den mittleren Schulabschluss wird er der Voraussicht nach bestehen. Solange es junge Lehrkräfte wie Robin Grimm gibt, bleibt also Hoffnung, dass nicht allen Schüler*innen die Perspektive geraubt wird.
*Namen von der Redaktion geändert