Am 04. Januar startet der, in Japan und Nordamerika auf Platz eins der Kinocharts eingestiegene, Film “Der Junge und der Reiher” auch in Deutschland – und wird einige Zuschauer rätselnd zurücklassen.

Hayao Miyazaki hat es mal wieder geschafft: Sein neuester Film „Der Junge und der Reiher“ hat schon vor dem Erscheinen Schlagzeilen als der teuerste Film, der jemals in Japan produziert wurde, gemacht. Seit 2016 arbeitete das Team aus über 60 Personen an jedem handgezeichneten Frame. Anders als seine bisherigen Filme wie beispielsweise „Mein Nachbar Totoro“, „Prinzessin Mononoke“ oder „Das wandelne Schloss“ wird diesmal eine zutiefst persönliche, autobiographisch geprägte Geschichte erzählt: Wie er das Aufwachsen in einem durch den zweiten Weltkrieg gebrochenen Japan und den Tod seiner Mutter erlebte. Diese Traumata muss auch die Hauptfigur überwinden, um die neue Stiefmutter annehmen und sein Leben weiterleben zu können.

So weit, so simpel. Doch es gibt einen Haken: Um diese emotionale Arbeit zu vollbringen, wird er in einen ominösen Turm von einem noch ominöseren Reiher gelockt, um in eine Parallelwelt zu gelangen, die sein Großonkel gebaut hat. Hier begegnet er unter anderem einer jungen Version seiner Mutter, einem Hitler-Sittich und den kleinen weißen Walla Walla. Klingt verwirrend? Ist es auch. Allerdings liegt genau darin der Charme dieses Films – sobald sich die geneigten Zuschauenden darauf einlassen können. Es gelingt eine verworrene David-Lynchesque Gratwanderung zwischen Leben und Tod, Bewusstem und Unterbewusstem sowie Träumen und der Realität.

Stufenweise ins Chaos

Der Film fängt sehr realitätsnah an. Der Bombenalarm dröhnt ebenso durch den Kinosaal wie über das Tokio in den Tagen des Krieges, wo Mahito – der Protagonist – aus dem Schlaf gerissen wird. Das Krankenhaus, in dem seine Mutter ist, brennt. Er schlägt sich durch die Stadt. Die Flammen lodern und greifen um sich, als kämen sie geradewegs aus einem Gemälde William Turners, der für seine berühmten Feuer-Bilder wie zum Beispiel “The Burning of the Houses of Parliament” eine ähnlich leuchtende Farbpalette verwendet. Dann folgt ein harter szenischer Cut, der Schauplatz der Handlung verlagert sich in ländlichere Regionen. Aus dem Off wird uns der Tod der Mutter verkündet. Vater und Sohn werden an einem Bahnhof von der neuen (bereits schwangeren) Geliebten des Vaters abgeholt. Die neue Umgebung wirkt idyllisch. Doch: Sogleich fällt auf dem Anwesen der neuen Frau ein Reiher auf, der Mahitos Nähe zu suchen scheint. Er wirkt bedrohlich, Mahito scheint daher zunehmend aggressiv auf ihn zu reagieren. Als er den Reiher verfolgt, findet Mahito erstmals den seltsamen Turm, dessen Eingang zugemauert ist. Später gelangt er wieder an den verwunschenen Turm und wird gemeinsam mit dem Reiher in eine fantastische, aber auch von Hunger und Angst gebeutelte Meereswelt gesogen.

Mahito muss mithilfe von Freunden und treuen Weggefährten den Weg durch dieses Reich finden. An den gefräßigen Sittichen vorbei will er seinen Weg finden und trifft dabei den Herren dieser Welt, der sich als sein Großonkel herausstellt und Mahito zu einer Art Thronerben in seinem Reich ernennen möchte. Zweifelsohne verhandelt Miyazaki hier auch sein eigenes Erbe. Wie wird es nun mit Studio Ghibli weitergehen, wenn er nicht mehr da ist? Obwohl er seit 2013 immer wieder seinen „letzten Film“ angekündigt hat und sich so einige Male scheinbar zurückzog, ist der mittlerweile 81-Jährige nun wahrscheinlich wirklich am Ende einer großen Karriere angelangt.

Für Mahito ist jedoch noch kein ähnlich einfaches Ende in Sicht. Als die Fantasiewelt  immer weiter dem Chaos zu verfallen droht, muss Mahito eine Entscheidung treffen: Ist er bereit die junge Version seiner  Mutter und sich selbst zu retten, indem er sie in ihre eigene Zeitlinie – also seine Vergangenheit – zurückkehren lässt und in der sie in den Flammen sterben wird, oder versucht er verzweifelt diese Welt zusammen zu halten und der Realität, die außerhalb der Fantasiewelt in Form seines besorgten Vaters auf ihn wartet, den Rücken zu kehren?

Kein Kinderfilm

“Der Junge und der Reiher” lässt sich, obwohl er ein Animationsfilm ist, mit Sicherheit nicht einfach als Kinderfilm einordnen. Phasenweise ist er gruselig, bedrohlich und unverständlich. Wie immer wieder angemerkt wird: „Es geschehen viele seltsame Dinge in diesem Anwesen.“ In diesem Film geschehen sie auch. Unverblümt werden Themen wie Tod, Gewalt der Natur durch Leben und Überleben und das Weiterleben nach einem schweren Verlust verhandelt. „In dieser Welt sind die Toten in der Überzahl.“ Keine besonders aufbauende Aussicht. 

Für einen entspannten Familienausflug finden sich bestimmt seichtere Filme. Ab einer gewissen Reife kann man hier jedoch ein mutiges, wahnsinnig kreatives und durchaus tiefsinniges Werk genießen. Ein definitiver Genuss für jeden passionierten Filmanalysten und Animationsenthusiasten. Miyazaki wird – sollte dies nun tatsächlich sein letzter Film sein- nicht nur in Japan dem Kino fehlen.


Foto: Der Junge und der Reiher Pressearchiv