Das Attentat der terroristischen Gruppe Hamas am 7.10. und der darauf folgende Krieg hinterlässt bis heute eine klaffende Lücke im Leben israelischer Studierender. Ein Großteil dient als Reservist*innen bei der Armee, die Hinterbliebenen suchen nach Halt und Routine.

Wir sitzen in einem kleinen Raum, wieder ertönt der Alarm. Alle verstummen, blicken zum Dozenten, „targil, targil“ sagt eine brüchige Stimme über die Lautsprecheranlage – Probealarm, Probealarm –, ein nervöses Lachen der Erleichterung und das Seminar geht weiter. Bereits der dritte in dieser Stunde. Inzwischen hätten wir alle gewusst, was zu tun ist; anderthalb Minuten, bis man im Bunker zu sein hat, zehn Minuten warten, dem dumpfen „Bumm“ aus der Ferne lauschen – die Detonation einer Bombe – dann den Alltag wieder aufgreifen. 

Seit zwei Monaten bin ich nun in Israel. Ich kam, bevor der Anschlag der Hamas das Land erschütterte und der Krieg begann. Mir begegnen schmunzelnde Blicke , wenn ich erzähle, dass ich gekommen bin, um an der Universität Haifa “Peace and Conflict” zu studieren. Ein Studiengang, der sich mit den vielen Facetten der Arabisch-Jüdischen Beziehungen auseinandersetzt. Als kurz nach meiner Ankunft mein erster Alarm ertönte, befand ich mich in einem Auto. Ich blickte zu meinem Beifahrer, einem Israeli. Er dirigierte mich an der Seite ranzufahren. Wir stiegen aus und rannten durch ein paar Büsche auf der Suche nach Schutz. Wir zwängten uns zwischen eine Mauer und ein abgestelltes Auto, hockten uns auf den Boden und blickten nach oben. Der Himmel leuchtete hell auf, nicht wie ein Blitz, sondern allumfassend, dann der dumpfe Aufschlag. Wäre ich allein gewesen, hätte ich die vermeintliche Sicherheit des Autos dem freien Himmel vorgezogen, doch eine Autodecke bietet wenig Schutz vor Raketensplittern. Bei diesem ersten Alarm erlaubte mir mein Körper keine Angstreaktion, zu sehr war ich damit beschäftigt, meinem Beifahrer zu folgen. Erstaunt beobachtete ich, mit welcher Routine er auf den Raketenalarm reagierte – aufgewachsen in einem Land, in dem diese Ausnahmesituation zwar nicht alltäglich ist, aber zum Leben dazugehört.

Alles andere als normal 

Doch egal wie routiniert man die Momente durchlebt, es macht sie noch lange nicht normal. Es bleibt etwas Beklemmendes zurück, das nicht so leicht abzuschütteln ist. Verpasste Anrufe, nur ein Haken im Messenger, ein ungewöhnlich langes Schweigen – all diese Dinge bekommen eine andere Bedeutung. Es gibt keine Unterhaltung, die nicht früher oder später auf den Krieg zu sprechen kommt. Bei jeder Aktivität bleibt die Frage, ob sie mit der aktuellen Situation zu vereinbaren ist. Ist Wandern im Norden gerade sicher? Ist feiern gerade angebracht? Wo ist am Strand von Tel Aviv der nächste Bunker? Ist es zu riskant? Alle Studiengänge, die auf Hebräisch unterrichtet werden, sind vorerst bis Ende Dezember ausgesetzt. Die Studiengänge, die auf Englisch unterrichtet werden, finden nur statt, wenn alle Kursteilnehmer*innen anwesend sein können. Sobald auch nur eine studierende Person fehlt, weil sie als israelische*r Reservist*in eingezogen wurde, ist der Kurs bis auf weiteres verschoben. Dementsprechend leer ist die Universität. Läuft man hinüber zum Wohnheim, sieht man mehr Kinder als junge Erwachsene. Familien aus Grenzregionen wurden hier untergebracht und leben nun Seite an Seite mit den Studierenden. Nichts ist normal, und doch etabliert sich ein Alltag. Wir arbeiten, lernen, gehen zur Universität, benutzen den öffentlichen Nahverkehr, inzwischen gehen wir sogar wieder in Restaurants, vielleicht auch mal in eine Bar. Und doch ist nichts normal. Ich sitze im Bus, auf dem Weg eine Freundin zum Kaffee zu treffen und mir laufen die Tränen, als ich an den 236 Stühlen vorbeifahre. Auf jedem Einzelnen ein Foto einer Geisel der Hamas. Die Haut ist dünner geworden, und dicker zugleich. Manchmal kommt die Trauer unerwartet, doch selbst daran hat man sich langsam gewöhnt. Ich wische die Tränen weg.

(K)eine Rückkehr in den Alltag

Die israelischen Studierenden in meinem Umfeld sind sich in ihren Ansichten uneins, der Zwiespalt der Hinterbliebenen. Ein Teil hält es für undenkbar, Unterricht in der Universität abzuhalten, während ihre Kommiliton*innen an der Front kämpfen. Es sei unsolidarisch, sie kämpfen für das Überleben Israels, den Schutz der israelischen Bevölkerung und sollen dafür in ihrem Studium, in ihrem Werdegang zurückstecken – undenkbar. Der andere Teil sieht das Weiterleben als Widerstand gegen die Hamas. Dem Terror nicht erlauben, einem alles zu nehmen. Den Terror nicht in jeden Bereich des Lebens eindringen zu lassen. Von fast allen ernte ich sehnsüchtige Blicke, wenn ich erzähle, dass ich sogar Seminare in Präsenz habe. Absurd, doch selbst im Krieg kann man sich langweilen. Alle sind sich einig, das Bedürfnis nach gewohnter Struktur und Beschäftigung ist groß, doch mit Normalität hätte eine Rückkehr in die Hörsäle gerade nichts zu tun. Nicht, wenn mehr als die Hälfte der Kommilitonen abwesend sind. Nicht, wenn man nach rechts und nach links blicken müsste und sehen würde, wer alles fehlt, wer alles Weggefährten verloren hat, wer es einfach nicht schafft, in den „Alltag“ zurückzukehren. Denn auch wenn der Krieg wieder aus dem Land gedrängt wurde, der Schock des Terrors ist geblieben und die Unsicherheit, die durch den 07. Oktober verursacht wurde, sitzt immer noch tief. 

Ich verlasse den Seminarraum, die Gänge liegen still. Niemand lacht, niemand pöbelt, niemand eilt vorbei. Ich bin froh herkommen zu dürfen. Einen Moment vergangener Normalität auskosten, bevor die Realität wieder über mich hereinbricht. Sie kommt schneller als erhofft. In einer langen Reihe hängen wieder die Bilder aller sich in Geiselnahme befindenden Personen am Straßenrand. Ich greife nach meinem Handy, irgendwelche Nachrichten?