Nicolas Philibert gewann vergangenes Jahr den goldenen Bären für seinen Dokumentarfilm Sur l’Adamant. In Averroès & Rosa Parks begleitet er weiterhin das Leben und Leiden in einer Pariser Klinik für Psychiatrie – einen Großteil des Films machen hierbei die Gespräche, auch „Interviews“ genannt, zwischen Ärzt*innen und Patient*innen aus. Ohne den ersten Teil gesehen zu haben sei gesagt: Hier ist etwas Bahnbrechendes gelungen.

Phobien und soziale Ängste, Paranoia und Verfolgungswahn, schwere Depressionen, Schlafstörungen und Psychosen – aus welchen Gründen die hier portraitierten Menschen in psychiatrischer Behandlung sind, erschließt sich aus den Gesprächssequenzen schnell. In einer Zeit und in einem Umkreis, in der gefühlt jede*r Zweite in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung ist, sind es nicht zwingend der Ablauf einer solchen Therapiesitzung oder die Fragen, die dort gestellt werden, die den Zuschauenden beeindrucken. Vielmehr ist es die Erkenntnis, dass die Pathologien dieser Menschen einen Status erreicht haben, in denen sie ohne ärztliche Betreuung nicht mehr lebensfähig sind. Ausnahmslos alle sagen: Ihr größter Wunsch sei es, wieder mit ihren Angehörigen unter dem eigenen Dach zu wohnen und einem geregelten Leben und Beruf nachzugehen.

Gleich in der ersten Szene wird über Freiheit gesprochen. Die Patient*innen sind erwachsen und haben nichts verbrochen. Trotzdem sind sie nie ganz frei, denn sie müssen auf Ärzt*innen und Betreuer*innen hören, auf ihre wildfremden Zimmergenoss*innen achten, brav ihre Medikamente einnehmen. Architektonisch glichen Kliniken Gefängnissen und Schulen: Alles Orte, an denen Menschen nicht unbeaufsichtigt leben oder verweilen können. Ohne die, nicht selten starke Nebenwirkungen hervorrufenden, Medikamente nicht weitermachen zu können, lässt viele der von der Kamera begleiteten Leute verzweifeln. Manchmal hört man Schreie und Wutausbrüche – meistens ist es still in der Klinik. Darum ist der Film so bewegend: Das schiere Leid wird vermittelt, ohne Menschen bloßzustellen oder ihr Elend in irgendeiner Weise mit einer Idee des „Wahnsinns“ oder auch des Scheiterns zu verknüpfen. Das einzige, was hier sichtbar gescheitert ist, ist die französische Sozial- und Gesundheitspolitik.

Denn die in ihrer Bemühung, Passion und Geduld wirklich beeindruckenden Mitarbeiter*innen stehen allesamt kurz vorm Burnout. Andauernd werden die Patientengespräche von Telefonanrufen gestört, der nächste Notfall warte schon. Nachtschichten rufen, der Job ist gleichermaßen belastend wie ermüdend. Der Präsident habe wohl keine psychiatrische Ausbildung, scherzt ein Patient. Es gibt zu viel Leid für zu wenige Angestellte.

Und trotzdem wird in den Kliniken Averroès und Rosa Parks gelacht. Schließlich steckt hinter jeder Pathologie auch immer ein Mensch mit einem eigenen Charakter, mit einem Witz und mit Leidenschaften: Es wird über Fußball und Philosophie geplaudert, über Politik und Essen. Viel über Dinge, die die Patient*innen als Kinder und junge Menschen begeistert haben, in ihrem Leben vor der psychischen Erkrankung. Für eine betagte Frau mit Wahnvorstellungen steht fest: Alles, was sie jetzt brauche, sei die Wärme einer menschlichen Umarmung, von ihrer verstorbenen Schwester etwa. Und die könne ihr kein Medikament und auch kein Arzt geben.

Für Philiberts Dokumentation sollte man Zeit mitbringen, denn sie ist lang. Doch für diesen berührenden Film, der, obwohl faule Zähne, Speichel und schmutzige Haarsträhnen durchaus nicht weggelassen werden, so erfrischend auf Voyeurismus und Pathos verzichtet, lohnt es sich definitiv.


Foto: TS Productions @Berlinale Stills