In der Notübernachtung Franklinstraße ist jeder Tag anders, aber keiner ohne Herausforderungen. Hier kommen Menschen mit ganz verschiedenen Geschichten zusammen. Eines haben sie aber gemeinsam, denn sie alle haben im Moment keinen anderen Ort, an dem sie unterkommen können. 

Charlottenburg an der Grenze zu Moabit ist nicht besonders aufregend; teils Wohn- und teils Gewerbegebiet, wie es in den Gegenden zwischen den Berliner Bezirken häufig der Fall ist. Nur ein kleines weißes Schild weist vor einem Metalltor in der Franklinstraße auf ein „Übernachtungsheim für wohnungslose Frauen und Männer“ hin, das sich offenbar im Hinterhaus eines Gebäudekomplexes befindet.
„Ja bitte?“ fragt eine Frauenstimme durch die Freisprechanlage. Sie rechnet wohl mit neuen Klient*innen, denn die Aufnahme ist täglich von sechs bis halb zwölf abends geöffnet. Der Öffner surrt, und am Ende des Weges wird eilig die Tür im Erdgeschoss aufgemacht. Der Leiter der Einrichtung läuft mit schnellen Schritten in sein Büro. Er ist um die sechzig, mit weißen Haaren und Bart. 

Dienstagnachmittags zwei Wochen später hat Jürgen Mark mehr Zeit. Der Leiter wirkt freundlich und gelassen, als er durch den großen Aufenthaltsraum in ein kleineres Nebenzimmer geht. Die einzigen Gegenstände hier sind zwei Tische, ein paar Stühle und ein kleines buntes Bild an den gelb gestrichenen Wänden.

Die Unterkunft gebe es seit 37 Jahren, damit handele es sich um die älteste Notübernachtung der Stadt, erzählt Jürgen Mark. Die Klient*innen seien sehr international. Im letzten Jahr hätten sie Menschen aus 99 verschiedenen Ländern im Haus gehabt. Viele sprächen kein Deutsch. Anders als die Bezeichnung „Notübernachtung“ vielleicht vermuten lässt, geht es hier nicht nur darum, eine kurze Übernachtungsmöglichkeit zu bieten, denn die Mitarbeiter*innen versuchen auch, langfristige Perspektiven zu schaffen.

 „Wir reden mit jedem, der zu uns kommt, und fragen nach den Gründen, warum er heute Abend diese Einrichtung aufgesucht hat. Dabei wird meist deutlich, ob derjenige einen Plan hat, also ob er weiß, was er tun muss, um aus der Notsituation ’rauszukommen“, erklärt der Sozialarbeiter routiniert. Er oder eine Kollegin würden dann gemeinsam mit den Klient*innen das weitere Vorgehen besprechen, damit sie wieder eine Basis in dieser Stadt fänden. In die Obdachlosigkeit zu rutschen, das können sich die meisten Menschen nicht vorstellen. „Das ist Quatsch“, sagt der Sozialarbeiter allerdings. Theoretisch könne Obdachlosigkeit jeden treffen, es komme immer darauf an, wo der wunde Punkt sei. „Es gibt ganz viele Schicksale und Geschichten, die eben nicht so 0815 sind, wie Ich hab‘ ein Alkoholproblem und deshalb krieg‘ ich nichts auf die Reihe’  Nee, so einfach ist es nicht.“ Das Fenster wirft etwas Licht in das kleine Zimmer. „Wir haben natürlich, ich sag’ mal, aus der bildungsfernen Szene sehr viel Publikum. Menschen, die nie die Chance hatten, eine Ausbildung zu erhalten“, erzählt er. 

Zunehmend Überforderung

Und natürlich, ein Alkohol- oder Drogenproblem spiele häufig eine schwierige Rolle hier im Haus. Der Zustand mancher Menschen sei mitunter so schlimm, dass man einfach nicht mehr helfen könne. „Die sind so gefangen in ihrer Droge oder ihrer teilweise psychotischen Welt, dass sie keinen Ausgang mehr finden und wir als Sozialarbeiter auch keinen Zugang.“ Jürgen Mark berichtet, dass sich diese Situation über die Jahre verschlechtert habe.

Das liege zum größten Teil an falschen politischen Entscheidungen. Es werde viel zu viel auf die Sozialarbeiter*innen abgewälzt, die eben keine Ärzt*innen, Psycholog*innen oder Psychiater*innen seien oder ersetzen können. Das zeige beispielsweise das Entlassungsmanagement der Krankenhäuser. Wie lange behält man eine Person ohne Wohnsitz und Einkommen auf Staatskosten in stationärer Behandlung? Aus finanziellen Gründen würden Menschen in dieser Situation oft viel zu früh entlassen und dann nicht selten hier in der Notübernachtung landen. Im Winter 2021 sei zum Beispiel ein Mann mit einem Taxi aus der Charité angekommen. Er hatte frisch amputierte Stümpfe und zwei Trombosespritzen in der Hand. „Und dann hat er mir noch im Taxi sitzend gesagt: Die sollst du mir geben ́. Ich spritze niemanden. Ich hab’ das nicht gelernt.“, sagt Jürgen Mark mit verzweifeltem Blick. Wenn man ihm zuhört, wird deutlich, dass unsere Gesellschaft oft nur das absolute Minimum für Menschen tut, die sich nicht mehr selbst helfen können. 

Am nächsten Tag hilft Nicolae* gerade freiwillig beim Putzen, das macht er jedes Wochenende oder wie heute ausnahmsweise an einem Feiertag. Der junge Mann hat dunkle Haare und ein freundliches Gesicht. Er kommt aus der Republik Moldau, ein kleines Land direkt neben der Ukraine. Der Zugang zu ihm ist zunächst etwas schwierig, denn obwohl Nicolae sehr zuvorkommend ist, ist ihm seine aktuelle Situation unangenehm. Er habe in Moldawien Jura studiert und im Frühling letzten Jahres ein mehrmonatiges Praktikum im Bundestag absolviert. Im September sei er dann erneut nach Berlin gezogen, auch wegen der politischen Situation in seinem Heimatland. Durch Russlands Krieg in der Ukraine besteht ein Risiko, dass auch Moldawien in den Konflikt verwickelt wird. Mit der von Russland illegal besetzten Region Transnistrien sind sogar in unmittelbarer Nähe Truppen stationiert. Jürgen Mark erzählte bereits, dass Nicolae sich mit seiner schüchternen Art im Berliner Wohnungsmarkt selbst im Weg stehe. Hier müsse man sich durchsetzen, außerdem sei es nicht gerade förderlich, einen ausländischen Namen zu haben. Er habe bereits versucht, ihn in dauerhaften Wohnprojekten unterzubringen. Doch dort werde er nicht genommen, weil er „zu gut klarkomme“. Er schafft es nun beispielsweise schon seit Monaten, einen Job bei LIDL zu halten. Es wird allerdings schnell klar, dass das nicht gerade seine erste Wahl ist. Wenn man Nicolae auf die Unterkunft und das Leben hier anspricht, zuckt er nur mit den Schultern und meint recht wortkarg, dass es im Moment seine einzige Option sei. Viel lieber spricht er von seinen Plänen für die Zukunft und seiner Leidenschaft für Geschichte und Geisteswissenschaften. Wenn es um diese Themen geht, wird Nicolae plötzlich warm. Er kann ziemlich gut deutsch, auch wenn es um komplizierte Themen geht. Wie er berichtet, habe er bereits ein Buch geschrieben über die Geschichte seiner Stadt in der Sowjetzeit. Es sei kein einfacher Prozess gewesen, das Buch herauszubringen und einen Verleger zu finden, aber es habe sich gelohnt. Auf diese Erfahrung ist er spürbar stolz. In Berlin möchte er außerdem noch einmal studieren, weil sein ausländischer Abschluss hier nicht anerkannt wird. Mit der Wahl des neuen Studienfachs tut er sich allerdings noch schwer. „Es muss eine gut überlegte Entscheidung sein“, meint er. Aber sich nur auf finanzielle Sicherheit auszurichten, kommt für ihn nicht in Frage. „Für manche Dinge muss man Geduld haben, lange kämpfen“, sagt Nicolae überzeugt. Im größeren Raum nebenan herrscht geschäftiges Treiben. Dann werden die Tische angeordnet, denn es gibt gleich Essen. Jürgen Mark fragt, ob sie jetzt mal weitermachen wollen mit dem Putzen, und Nicolae verabschiedet sich. Von den intellektuellen Überlegungen geht es für ihn also wieder zurück in den Alltag der Notübernachtung – fürs Erste.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert


Foto: Pia Wieners