Meine Familie kommt aus dem Osten. Seit meinem Umzug von Berlin nach Greifswald ist meine ostdeutsche Herkunft für mich gegenwärtiger und relevanter geworden. Mittlerweile weiß ich, dass es vielen so geht.
Ich habe den Eindruck, dass sich ostsozialisierte junge Menschen heute intensiver mit ihrer Herkunft auseinandersetzen als westsozialisierte. Vielleicht wollen sie sich mehr mit ihr beschäftigen. Aber vielleicht müssen sie das auch, weil in den Medien mehr über den Osten berichtet wird. Weil im Osten mehr Menschen rechts wählen. Weil die Menschen im Osten weniger verdienen. Ich wollte wissen, ob mein Eindruck trügt und habe mit Student*innen aus Greifswald und Berlin darüber gesprochen, welche Rolle Ost-West für sie heute noch spielt.
Mit 19 Jahren ist Merle (21) von Schleswig-Holstein für ihr Studium nach Greifswald gezogen. Das sei auch das erste Mal gewesen, dass die gebürtige Kölnerin persönlich mit dem Thema Ost-West in Berührung kam: „Für mich war das nie so ein Ding. Dadurch, dass ich nie da war, habe ich selbst keinen Unterschied gemacht.“
Wenn die Studentin mit Kommiliton*innen spricht, die auch aus Westdeutschland nach Greifswald gezogen sind, merke sie, dass in den Köpfen noch immer ein Unterschied zwischen Ost und West gemacht werde: „Der Osten ist dann auch etwas, worüber manche Witze machen. Ich glaube, das sind Sachen, die man nicht über Westdeutschland sagen würde, weil oftmals die Menschen aus der ehemaligen DDR als ‚die anderen‘ wahrgenommen werden“, so Merle.
Fehlende Sensibilität
Für Sebastian (24) spielt die strukturelle Benachteiligung von Ostdeutschen eine wichtige Rolle: „Viele von uns werden nichts erben. Frauen mit Ostbiografie in Führungspositionen gibt es viel weniger. Arbeitsleistungen und kulturelle Errungenschaften werden in der breiten Westbevölkerung oft belächelt oder nicht anerkannt“, sagt der Ost-Berliner. Westsozialisierten jungen Menschen fehle es oft an Sensibilität für das Thema. Dass hinter „dem Osten“ mehrere Generationen mit individuellen, ganz persönlichen, teils sehr emotionalen Biografien stehen, sei den meisten kaum bewusst.
Der Student bekomme manchmal das Gefühl, er müsse sich besonders für Ostdeutschland, gerade weil es seine Heimat ist, behaupten und den Menschen eine andere Sichtweise aufzeigen. Dabei wandere er immer auf einem schmalen Grat. Einerseits verteidige er ostdeutsche Geschichte, andererseits versuche er, keine DDR-Verherrlichung zu betreiben.
Sebastians Ostsozialisierung habe auch einen Einfluss auf seine Beziehung: „Mein Partner wurde vor der Wende geboren und kommt aus Westdeutschland. Für uns ist Ost-West schon ein ständiges Thema. Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich immer die Thematik aufbringen muss, insbesondere, wenn ich auf Ungerechtigkeiten aufmerksam mache“, so der Student.
„Westmentalität“ als Status Quo
Solche Unterschiede im Miteinander stellte auch Charlotte (24) fest, als sie 2017 von Oranienburg, wo sie geboren und aufgewachsen ist, für drei Jahre nach Aachen zog. „Als ich in Aachen gewohnt habe, wurde mir bewusst, wie anders die Menschen aufeinander zugehen und wie anders manche Sachen aufgefasst werden“, erinnert sie sich. In ihrer Familie habe sie eine andere Art von Umgang mit ihren Mitmenschen erlebt:
„Ich empfinde das manchmal so, dass ich einen praktischeren Blick auf Situationen habe und dass ich mich schneller mit Entscheidungen abfinden kann, beziehungsweise nicht so viel über Gefühle reden muss, um zu akzeptieren, was gerade passiert. In Aachen war das anders“, so Charlotte. Mittlerweile wohnt die Studentin in Berlin-Pankow. Das Gefühl, dass der Status Quo eher eine gewisse Westmentalität sei und dass die „Ossis“ noch immer als Außenseiter angesehen werden, lasse sie dennoch nicht los.
Illustration: Céline Bengi Bolkan