In grünen, hautengen Anzügen stehen sechs Männer im Studio des Maxim Gorki Theaters in Berlin und spielen Die drei Schwestern. Eine Rechnung, die nicht nur mathematische Herausforderungen verspricht. Das 70-jährige Gründungsjubiläum des Theaters lädt ein, einen Blick zurück, aber auch nach vorne zu werfen.

1952 wurde aus der Singakademie Unter den Linden unter sowjetischer Besatzung ein zeitgenössisches Stadttheater, das den programmatischen Namen Maxim Gorki Theater bekam. Der 1868 geborene russische Schriftsteller Anton Tschechow avancierte zum Aushängeschild des Theaters im Osten, dessen Stücke Eckpfeiler der Spielzeiten zwischen 1960 und 1990 wurden. Während Platonow” und Der Kirschgarten”, zuletzt adaptiert von Katie Mitchell am SchauSpielHaus Hamburg, immer wieder aufgelegt werden, ziert ein anderes Stück die Spielzeit 2021/22 am Maxim Gorki Theater. Christian Weise inszenierte jüngst Tschechows Die drei Schwestern”, das eine ganz besondere Hommage an die Geschichte des Hauses darstellt. 

Regisseur Thomas Langhoff brachte das Stück 1979 auf die Bühne am Festungsgraben. Zur Zeit der Premiere waren besonders die Stücke russischer Autoren wie auch Gegenwartsdramatiker der DDR im Programm. Die Intendanz Thomas Hetterle schrieb sich ihren eigenen Bauplan. 

Nach dem großen Erfolg der Theateradaption verfilmte Langhoff 1983 in Ostberlin das Tschechow-Stück als Familiendrama – ein Novum für den Theaterbetrieb. Dazu drehte er unter anderem im Magnus-Haus in Berlin sämtliche Innenaufnahmen des 150 minütigen Films, der um das Aufwachsen und die Sehnsüchte von Olga, Mascha und Irina zirkuliert. Die Stadt Moskau, in die alle drei Schwestern, gespielt von Swetlana Schönfeld, Ursula Werner und Monika Lennartz, zurückkehren möchten, fungiert derweilen als Projektion aller alltäglichen Wünsche und Sorgen. Die Komplexität des Stückes ruht in seiner Figurenkonstellation wie Dramaturgie, nicht in einem sich aufbauenden, unlösbaren Konflikt. Nichtsdestotrotz erreichen die Schwestern Moskau nie. Erstausgestrahlt wurde Langhoffs Film schließlich am 26. März 1984 im Fernsehen der DDR.

 Dieser Film flackert jetzt auf Fernsehbildschirmen im Hintergrund der Bühne des Studio Я. In allen Ecken, diagonal zur Bühne, sind sie aufgestellt. Zu sehen ist ein Bild im Bild, ein bewegtes Bild – aber auch eine bewegende Auseinandersetzung mit der erfolgreichen DDR-Verfilmung? 

Das Drehen der Handflächen

Bewegung wird im Re-enactment auf die Spitze getrieben. Die Spanne dessen, was als Nachspielen verstanden wird, ist groß. Zwischen zentimetergenauer Arbeit in der Drehung der Handflächen während eines Szenenwechsels und der groben Einhaltung einer Szene tarieren die technischen Möglichkeiten. Nicht immer gibt es ein direktes Korrektiv in Form von Bildschirm oder Ton, das Orientierung bieten kann. Auf den Takt genau laufen Film und Schauspiel parallel ab – ein Kraftakt.

Bildschirme umgeben die Bühne und sorgen für ein beständiges Überprüfen-können der Bewegungsabläufe. Doch selten weichen die Blicke der Schauspieler ab, die Vorgänge sind verinnerlicht und müssen nur an der richtigen Markierung ausgeführt werden. Die Green-Screen Kostümierung suggeriert eine schier endlose Reproduzierbarkeit der Darstellung. Diese Technik enthält eine Zeichenhaftigkeit, um uns selbst auszublenden und das Gesehene als Schatten nachzuempfinden”, erklärt Christian Weise. Als Tisch, Stuhl, Bilderrahmen und Figuren des Originalfims strukturieren die Schauspieler den ersten Akt, in dem die Szenerie des ungekürzten Filmausschnitts in jeder Bewegung mimetisch nachgestellt wird. Dabei enthält sich die Produktion jedoch jeglichen kritischen Kommentars zum Original. Stattdessen bleibt der Wortlaut der Figur Tusenbach, gespielt von Tim Freudensprung, dogmatisch: Was für nichtige Dinge doch plötzlich in unserem Leben Bedeutung erlangen.”

Der 1973 in Lutherstadt Eisleben geborene Regisseur Christian Weise hat nach seinem Studium an der Ernst Busch Hochschule in Berlin an zahlreichen Theatern Deutschlands gearbeitet. Er war sowohl als Hausautor am Neuen Theater in Halle, am Staatstheater Stuttgart wie auch am Theater Augsburg. Seine Geschichte am Maxim Gorki Theater beginnt allerdings schon früher. In den 90er-Jahren war Weise als Schauspieler und Puppenspieler am Haus tätig. Dabei lernte er auch die Schauspielerinnen der Drei Schwestern-Produktion von Langhoff kennen. Eine Bekanntschaft, die für seine Arbeit als Regisseur an Tschechows Stück nun neu entflammt. Eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem filmischen Material und vor allem der Inszenierungsgeschichte des Stoffes am Maxim Gorki sollte in das Projekt Drei Schwestern fließen, das auch einen filmischen Langhoff Zwischenspieler beinhaltet: Der dokumentarische zweite Akt des Stückes zeigt Interviews, die mit den Schauspielerinnen der Filmversion gedreht wurden. Dazu Weise: Wir kannten uns alle sehr gut. Körper und Originalstimmen sollten dabei sein. Die Schauspielerinnen konnten nicht bei jeder Vorstellung vorbeikommen und so haben wir eine gute Lösung gefunden.” 

Arbeit und Arbeitertheater

Ähnlich verhält sich der Versuch der Berliner Gruppe andcompany&co, die 2021 eine Bearbeitung des Stücks Horizonte” von Gerhard Winterlich wagten, das wiederum 1968 am Arbeitertheater der PCK Schwedt seine Uraufführung feierte. Das Petrochemische Kombernat in Schwedt ist ein Erdölverarbeitungszentrum in der Uckermark, das im Zuge der DDR-politischen Expansion der Grundstoffausschöpfung entstand. Arbeitertheater, in denen Arbeiter*innen für Arbeiter*innen performen, waren in der DDR nicht unüblich und Teil eines politisch motivierten Kulturapparates. Das Arbeitertheater des PCK Schwedt griff wiederum René Pollesch mit dem Stück Und jetzt?” Anfang Dezember 2022 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin auf. Im Bühnenbild, Kostümen und der Sprache rollen Theatergeschichte und des Hauses neu auf, vor dem Hintergrund eines immer noch laufenden Industriezweiges. Literarische Querverweise, auf der Brecht’schen Holzbühne mündend, positionieren so auch ein ästhetisches Programm des Hauses. 

Neue Kontexte, neue Interpretationen. Der Umgang mit Langhoffs Film wirft Fragen auf- und zurück. Auch danach, welche Rolle die theatergeschichtlichen Meilensteine der am Maxim Gorki Theater aufgeführten Stücke noch für ein gegenwärtiges Programm spielen müssen und können.


Beitragsbild: Celine Bengi-Bolkan