„Was ist Verrat?“, fragt der Ich-Erzähler und antwortet sich selbst: „Vielleicht, wenn du vom Pinkeln kommst, du bist mit deinem Freund an den See zum Baden gefahren. Es ist kein echter See, nur einer der vielen Tümpel hier an der Havel, es sind die letzten Tage der Sommerferien, die ersten Tage nach der Revolution, nach der Wende, nach der Wiedervereinigung, oder wie das gerade richtig heißt (…) und du hast nach einem Gebüsch gesucht, einem ohne Scheiße, es gibt Leute, die kacken einfach überall hin, und als du zurück kommst, ist dein Freund weg.“

Und das fasst ihn eigentlich ganz gut zusammen, den Roman Wir waren wie Brüder von Daniel Schulz. Ein Wenderoman, der von Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit, und vom jugendlichen Drang, anerzogenes Verhalten und vermittelte Werte zu erhalten und gleichzeitig einfach wegzuschmeißen, handelt. In kurzen, episodenhaften Kapiteln erzählt Daniel Schulz die Jahre 1989 bis 2000 aus der Perspektive eines erzählenden jugendlichen Ichs, verloren und vergessen in der Zeit kurz nach dem Mauerfall. Der Autor selbst wurde 1979 in Potsdam geboren und ist Redakteur bei der taz. Dass sich der Roman autobiografisch liest, erklärt sich demnach nicht nur anhand der räumlichen und zeitlichen Nähe zwischen Autor und erzählendem Ich, sondern auch aus diversen von Schulz veröffentlichten Texten.

Leser*innen lernen nicht nur Miriam und ihre manchmal solidarischen, manchmal idiotischen Freunde, Volker, Dominik und Mario, kennen. Durch sie erfahren Leser*innen vor allem viel über die Zeit und den vermeintlichen Zeitgeist selbst. Es geht um den Osten, sein Verhältnis zum Westen und darum, sich mit einem faschistischen Umfeld irgendwie zu arrangieren, um nicht alleine zu sein. Der Protagonist  hat eigentlich die „Regel: Keine Hausbesuche bei Dominik, Volker oder irgendjemand anderem vom Parkplatz”…”, denn er hat „keinen Bock auf Zimmer mit Reichskriegsflaggen und Hitler-Bildern“ und muss diese Regel gleichzeitig ständig brechen. 

Geld und Plattenbauten

Am eindrucksvollsten wird die Spannung zwischen Ost- und Westdeutschland der Nachwendezeit im Verhältnis zur eigenen Familie beschrieben. So war es bis 1990 noch der Vater, der das metaphorische Brot nach Hause brachte, während die Mutter neben dem schlecht bezahlten Beruf sich um den Haushalt kümmerte. Jetzt verdient sie mehr. „Das müsste sich doch eigentlich ausgleichen“, sagt das erzählende Ich, und trotzdem wächst in der Familie der Verdruss. Der Vater, mittlerweile Versicherungsvertreter, flieht in den Alkoholismus. Das System  kommentiert er so: „Jeder muss sehen, wo er bleibt. Mit dem Arsch an die Wand kommen, das ist das Wichtigste. Wenn du nicht an dich denkst, tut es keiner.“

Selten und leider wenig ausführlich sind die Beschreibungen von Landschaften, Charakteren und Verhältnissen zu anderen Personen; lediglich die von Scham durchzogene Liebschaft zwischen dem erzählenden Ich und Miriam gewinnt an Farbe. Alle anderen Momente bleiben blass und grau – und trotzdem: Eben diese monotonen -Plattenbauten, grauen Bushaltestellen und die immer gleichen Seen sind es, die in ihrer Einöde und Entmutigung den Charme der Geschichte und die subjektive Verzweiflung über Ostdeutschland greifbar machen.

Innere Zerrissenheit

Schulz gibt sich in stellenweise überzogener Fäkalität Mühe, die Scham und die Gewalt, die Scheiße und das Ficken zu beschreiben und schreckt insbesondere nicht vor der inneren Zerrissenheit des erzählenden Ichs zurück. Wenngleich nach jeder Spannung auch wieder Ruhe in den Text einkehrt und wohl zu keiner Zeit eine akute Lebensgefahr für die Charaktere besteht, ist sowohl dem erzählenden Ich als auch den Leser*innen klar, dass Groll gegen die Gesellschaft auch weiterhin ihren Ausdruck in Hass und Hetze finden wird. Ob also nicht nur das Territorium, sondern auch die Menschen wiedervereinigt wurden, bleibt letztlich offen. Ob es sich bei dem Roman um eine Wiedervereinigung handelt, auch.


Illustration: Céline Bengi Bolkan