Ein Mädchen, gerade einmal fünf Jahre alt, zieht aus Thüringen zu ihrer Mutter nach Baden-Württemberg. Kurze Zeit nach der Einschulung erwähnt sie einer Mitschülerin gegenüber, woher sie ursprünglich kommt  „Iiiih, du kommst aus dem Osten?!“ erwidert sie. 

Das Mädchen war ich, zu diesem Zeitpunkt etwas über sieben Jahre alt und das erste Mal mit meinem persönlichen Ost-West-Konflikt konfrontiert. 

Eine Person, die aus dem Osten kommt, wird heute darüber definiert, in einem der Neuen Bundesländer(Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern) oder in Ost-Berlin geboren zu sein. An einem Ort geboren zu sein und sich mit diesem Ort und seiner Kultur zu identifizieren, sind jedoch grundverschiedene Dinge. Um zu verstehen, wie Ost und West heute, 33 Jahre nach der  Wiedervereinigung, für uns noch eine Rolle spielen, werde ich in diesem Artikel einen Teil meiner Geschichte erzählen.

Mein Osten – auf der einen Seite einer unsichtbaren Mauer 

Hier bin ich geboren: Rennsteig, Thüringen. Hier lebt meine Familie, hier bin ich in die Kinderkrippe und den Kindergarten gegangen und habe alle Schulferien verbracht. Es sind die kleinen Dinge, die sich mir in diesem Umfeld eingeprägt haben: meine Oma oder Uroma, die den ganzen Tag in Kittelschürze verbringt, wie wir mit der ganzen Familie an Weihnachten zusammensitzen, Romé oder Skat spielen und es zum Kaffee am Sonntag kalten Hund” gibt. Wie mir meine Mutter und meine Oma von früher erzählen, wie sie sich auf die Care-pakete mit Kaffee, Schokolade, oder Spielsachen von Verwandten und Bekannten aus dem Westen gefreut haben. Vor allem jedoch daran, wie die Gemeinschaft sich gegenseitig unterstützt und füreinander da ist. Erinnerungen an letzten Sommer, als mein Vater und ich die Heuernte einholen und es plötzlich anfängt, in Strömen zu regnen. Sofort waren mehrere Nachbar*innen zur Stelle und halfen mit. Wir kennen uns, nehmen Teil am Leben der Menschen um uns herum, helfen uns, wenn jemand etwas braucht. 

Mein Westen – die andere Seite einer unsichtbaren Mauer

Hier bin ich aufgewachsen: Hochschwarzwald, Baden-Württemberg. 

Es fällt mir schwer, diese Umgebung mit meiner Gebürtigen zu vergleichen, da sie sich – abgesehen von dem starken Dialekt vor Ort – in wenigen Punkten ähneln.

Bis zur Oberstufe war es ein Hindernis, dass meine Familie und ich aus dem Osten kommen, da viele meiner Mitschüler*innen erstmal gar nicht wussten, was mit dieser Information anzufangen sei. Sie stand meistens im Raum, wie ein unsichtbarer Elefant, der die Sicht versperrte. 

Dass Menschen aus den neuen Bundesländern 41 Jahre eine ganz andere Kultur unter grundverschiedenen Ausgangssituationen und Entwicklungen heraus erlebt haben, scheint unterbewusst allen klar zu sein. Die Unterschiede im Denken und Fühlen sind dabei nicht greifbar, sondern liegen nur als Bauchgefühl vor.

Ich erinnere mich an eine Geburtstagsfeier einer guten Freundin in der Grundschule: Die Ideen der Gäste, was wir zusammen machen könnten, schienen allerdings nicht von Bedeutung zu sein. Das Geburtstagskind entschied, was gemacht werden sollte – egal ob die Mehrheit darauf Lust hatte oder nicht. Dieser und viele ähnliche Momente haben mich während meiner Schulzeit oft fremd fühlen lassen, weil ich nie so vorgegangen wäre. 

Denn mein Gefühl von Gemeinschaft, mit dem ich aufgewachsen bin, wurde von meinen Mitschüler*innen und Lehrer*innen nie wirklich verstanden. 

Zum anderen wussten meine Freund*innen mit vielen Dingen, die ich als selbstverständlich annahm, nichts anzufangen, weil ihnen vieles unbekannt war. Mein Lieblingsmärchen “Väterchen Frost – Abenteuer im Zauberwald“, das Lied „Kling Klang“ von Keimzeit, oder die andere Art von Jägerschnitzel bestehend aus paniert gebratener Jagdwurst, Nudeln und Tomatensoße, um ein paar wenige Beispiele zu nennen. Wir kommen aus einem Land, wir teilen eine Vergangenheit, doch trotzdem kennen wir uns nicht und haben Schwierigkeiten, uns zu verstehen.

Immer wieder fällt mir auf, wie selbstbezogen die Menschen im Hochschwarzwald an ihren Alltag herangehen. Weder an Geburtstagen, Weihnachten noch an Silvester geht jemand bei seinen Nachbarn vorbei und beglückwünscht sich einfach so; das Miteinander und Füreinander sind Phänomene, die ganz anders gelebt werden. 

Des Pudels Kern 

Oft habe ich mir gedacht, dass sich an diesem Punkt unsere schleppende Wiedervereinigung herauskristallisiert: Anstatt aufeinander zuzugehen, miteinander zu sprechen, sich Geschichten zu erzählen oder als Gesellschaft zusammen zu finden, gab es eine Wiedereingliederung der neuen Bundesländer, ein politisches Ereignis und Gedenktafeln an der Berliner Mauer – aber kein kollektives Wieder-Zusammenfinden der Menschen. Alleine für sich oder in der Gemeinschaft der lang bekannten Nachbarn sitzen Menschen in ihren Wohnzimmern und wundern sich, warum Menschen östlich oder westlich von ihnen eine andere Mentalität haben, anders bezahlt werden und ein so ganz anderes Leben führen. Ohne es aktiv zu wollen, bestärken wir die Unterschiede, anstatt zueinander zu finden. 


Illustration: Lotte Marie Koterewa