Seit Jahren bemüht sich die georgische Bevölkerung um die Mitgliedschaft in der EU und Nato. Die Kaukasusrepublik hadert jedoch mit ihrem sowjetischen Erbe.

Die georgische Hauptstadt Tbilissi schmückt sich mit unzähligen EU-Fahnen – sie wehen vor offiziellen Regierungsgebäuden, von Balkonen, und kleben als Sticker an Verkaufstheken neben Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine. Die zwölf Sterne auf blauem Grund, die symbolisch für westlich besetzte Werte wie Demokratie und Gewaltenteilung stehen, sind in Georgien wohl präsenter als in den meisten europäischen Staaten. Dabei ist das knapp vier Millionen Einwohner*innen zählende Land im Kaukasus kein Teil der Union. Seit 2006 strebt es offiziell eine Mitgliedschaft an, aber als die 27 Regierungschef_innen im Frühjahr 2022 der Ukraine und Moldau den EU-Beitrittsstatus verliehen, erhielt Georgien lediglich eine Beitrittsperspektive. Hierzu definierte die EU-Kommission zwölf  Reformprioritäten, darunter die Umsetzung einer Justizreform zur Gewährleistung einer unabhängigen Justiz.

„Wenn Verwestlichung bedeutet, dass Männer und Frauen die gleichen Rechte haben, dann brauchen wir das auf jeden Fall“, sagt Vero (26). Die feministische Aktivistin hat als Treffpunkt Fabrika gewählt; ein Konglomerat aus Hostel, Restaurants und alternativen Läden. Dessen mit Graffiti übersäte Fassade lässt nicht darauf schließen, dass der Komplex zu Zeiten der Sowjetunion eine Nähfabrik beherbergte. „Ich kämpfe noch nicht mal für gendergerechte Sprache oder sowas wie eine Frauenquote”, sagt die Aktivistin. „Ich kämpfe buchstäblich dafür, dass hier keine Frau aufgrund ihres Geschlechts sterben muss.”

Kritik an der Regierung

Zehn solcher Femizide zählte die Menschenrechtsorganisation UN Women für das Jahr 2020. Doppelt so viele Versuche gab es. „Bei jedem einzelnen Mord fühle ich mich schuldig“, sagt Vero. Sie habe das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Die Zahlen sind hoch, aber sie sind kein Ausreißer im Vergleich zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Wo die EU allerdings Nachholbedarf sieht, ist im Umgang der georgischen Polizei mit geschlechtsspezifischer Gewalt. In einem Fall verklagte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Georgien deshalb dazu, eine Strafe von 35.000 Euro an die Hinterbliebenen einer getöteten Frau zu zahlen. Auch Vero findet: „Die Regierung tut nichts gegen die Gewalt an Frauen.“

Überhaupt ist das Verhältnis der Georgier*innen zu ihrer Regierung angespannt. Viele der Bürger*innen haben in den vergangenen Monaten ihren zu Russland-freundlichen Kurs kritisiert. Denn tausende Russ*innen kamen wegen der vorteilhaften Visabedingungen seit Februar über die Grenze in Verchnyj Lars. Und die enorme wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von seinem nördlichen Nachbarn hat sich im vergangenen Jahr noch weiter vertieft. Wie die Partei Georgischer Traum überhaupt bei den Wahlen 2021 gewonnen habe? Korruption, antworten hier viele auf die Frage. In den einfacheren Gegenden des Landes ließen die Menschen ihre Stimme schon mit ein paar Kartoffeln kaufen. Überprüfen lassen sich diese Aussagen nur schwer.

Durch Tbilissi ziehen sich die Spuren der sowjetischen Vergangenheit vor allem unterirdisch. In zwei Linien gräbt sich die Metro unter die georgische Hauptstadt. Ihre Stationen erinnern mit den hohen Hallen und überlangen Rolltreppen an ähnliche Transportsysteme in Moskau, Jerewan, sogar Kyiw. Zu Zeiten der Sowjetunion galt die Metro als Prestigeobjekt, das in Städten mit mehr als einer Million Einwohner*innen gebaut wurde. Tbilissi bekam in den 1960er Jahren als wichtigste Kaukasusmetropole sogar eine, noch bevor es diese Marke knackte. Der Glanz aber verblasste schnell. In den 90er Jahren blieben die Züge wegen der häufigen Stromausfälle oft abrupt in den dunklen Tunneln stehen.

Spuren der Sowjetunion

Natalja (45) arbeitet als Metro-Aufseherin in einer der Stationen. Den Beruf gab oder gibt es in den meisten postsowjetischen Staaten. „Ich überwache die Schranken zur Fahrscheinkontrolle und helfe Passagieren, wenn sie etwa ein Problem mit ihrem Ticket haben“, erzählt die Georgierin. Viele ihrer Kolleginnen wirken mindestens gelangweilt, einige schlafen in ihren kleinen Häuschen. Der Job mutet wie ein Überbleibsel an, das man abzuschaffen vergaß, als das kommunistische Ziel auf Vollbeschäftigung mit dem Zerfall der Sowjetunion obsolet wurde.

Aber Natalja findet nur gute Worte für ihren Job. Wegen der Schichten, die 12 Stunden dauern, habe sie viel Freizeit. Dass sie mit 750 Lari (circa 250 Euro) nur die Hälfte dessen verdient, was sie zum Leben braucht, findet sie fair. Wie die meisten in Georgien hätte sie noch einen zweiten Job und würde an ihren freien Tagen in einer Pizzeria aushelfen. „Weil es eine staatliche Stelle ist, habe ich viel Sicherheit und Aufstiegsmöglichkeiten“, versichert sie mehrmals. Die Arbeit mache ihr viel Spaß. Auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion halten ihre ehemaligen Bürger*innen sich mit Kritik an staatlichen Strukturen zurück.

Die Auswirkungen des aktuellen Kriegs gegen die Ukraine sieht Natalja zudem bei ihrer Arbeit. „Seit Februar sind viele Menschen aus Russland und der Ukraine nach Tbilissi gekommen. Sie kennen sich hier noch nicht gut aus, sprechen kein Georgisch und nur schlecht Englisch“, sagt Natalja (45). „Deshalb freuen sie sich meist umso mehr, wenn ich ihnen auf Russisch antworte und ihnen den besten Weg zeige.“

Diese Freude über das Russisch mit Moskauer und St. Petersburger Einschlag teilt in Georgien allerdings nicht jeder. Auf einer Speisekarte in der Fabrika steht etwa: „Wir sprechen kein Russisch. 20 Prozent unseres Landes sind von Russland okkupiert.“ Gemeint sind damit die beiden Regionen Abchasien und Südossetien, die in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstützt werden. Bis heute hat er dort seine Truppen stationiert. Alle paar Wochen rückt der Stacheldraht, der diese völkerrechtswidrige Grenze markiert, über Nacht ein Stückchen weiter ins georgische Kernland hinein – und verschiebt damit auch die Grenze zwischen Ost und West um einige Meter. Noch wesentlich schneller wandern Ideologien aber über das Internet. Das sieht auch Vero bei ihrer Arbeit. „Viele der falschen Geschlechterrollenbilder werden durch russische Propaganda vermittelt“, sagt sie. „Aber wir kämpfen dagegen.“


Fotos: Sarah Vojta