Betrüger-Syndrom, Selbstaufopferung und intergenerationale Traumata – dieser Ballast geht oft mit der Rolle der ältesten Tochter in einer Migrant*innenfamilie einher. Wie ich durch mein Studium zur Therapie fand und erkannte, dass mich die Rolle als älteste Tochter lange Zeit daran hinderte, ich zu werden.

Mein Opa sagte bei meiner Einschulung zu mir: „Bilde dich. Nur so kannst du dich retten.” Ich saß mit meiner Diddl-Schultüte in der Hand und blickte ihn wortlos an, weil ich nicht wusste, wovor ich mich retten sollte.Trotzdem hatten seine Worte einen langen Nachklang und an seine eindringlich blickenden Augen, die er kurz von dem Fernseher weg und auf mich richtete, erinnere ich mich bis heute.

„Bilde dich. Nur so kannst du dich retten.”

Im Laufe meiner Schulzeit verstand ich allmählich seine Warnungen. Ich wuchs in einem Dorf in der Pfalz auf. An meiner Grundschule waren Spiele wie „Wer hat Angst vor’m Schwarzen Mann?” oder das Singen von Liedern wie „Drei Chinesen mit dem Kontrabass” die Regel. Spätestens als mich im Religionsunterricht meine Lehrerin fragte, ob sie automatisch zur Muslimin würde, wenn sie ein Kopftuch trägt, wusste ich, dass viele meiner Lehrer*innen eine mangelnde interkulturelle Kompetenz besaßen. Für die meisten war das jährlich stattfindende Fest der Kulturen, wo das kulturelle Erbe meiner Eltern auf türkischen Volkstanz und Baklava reduziert wurde, der einzige Berührungspunkt. Ich blieb in dem Moment sprachlos.

Neben diesen Erfahrungen kamen Pflichten dazu, die ich als die älteste Schwester zu erfüllen hatte. Wie in vielen anderen Migrant*innenfamilien damals auch, verfolgten meine Eltern die Logik, dass ich als die Älteste auch für die Erziehung meiner Geschwister verantwortlich sei. Ich musste dafür haften, wenn sie Fehler begingen. Ich durfte mir selbst keine Fehler erlauben, weil ich eine Vorbildfunktion besaß. Meine Geschwister wussten natürlich umgekehrt, dass sie sich Fehler auf meinem Rücken erlauben konnten. Während sie dieses Spiel durchschauten, wurde ich in die Rolle der Wächterin gezwungen. Ich musste schlichten, wann immer sich meine Geschwister stritten. Ich musste teilen und durfte nichts für mich behalten, sonst wurde ich als Egoistin gebrandmarkt. In meiner Familie war Egoismus ein Schimpfwort. Für meine Mutter war meine Rolle mit ihrer deckungsgleich, aber schon damals konnte ich mich nicht mit ihrer bedingungslosen Selbstaufopferung identifizieren.

Familie kommt zuerst

Zu dieser Familienkrise kam die Identitätskrise: das Vermitteln zwischen zwei Kulturen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Nach meinen Eltern musste die Familie als Lebensgemeinschaft für mich die oberste Lebensmaxime sein, während meine Freunde mir vermittelten, dass ich mich selbst entfalten musste und keiner Person etwas schulde. Der Kollektivismus meiner Familie und der von meinen Freund*innen propagierte Individualismus ließen sich nicht miteinander vereinbaren. Ich hatte das Gefühl, keiner Seite gerecht werden zu können, aber hinterfragte kein einziges Mal, warum es überhaupt zu diesem inneren Konflikt kam.

Es sollte 22 Jahre dauern, bis ich endlich im Therapieraum saß. In meiner Familie war ich bis zu dem Zeitpunkt die erste Person, die diesen Schritt wagte. Dysfunktionale Familienkonstellationen waren für uns lange Zeit eine unverrückbare Norm und Therapie, etwas, das vermeintlich nur Menschen mit „Dachschaden” beanspruchen. Bei meinem ersten Vorgespräch in der Praxis bekam ich mehrere Labels aufgedrückt: Arbeiterkind. Erste Person, die studiert. Älteste Tochter. Intergenerationale Traumata. Angststörung.

Arbeiterkind und älteste Tochter

Ich fühlte mich durchschaut und wie ein wandelndes Klischee. Der Automatismus, mit dem der Praxisleiter seine Diagnose in nur wenigen Schlagworten zusammenfasste, löste das Gefühl in mir aus, dass ich fehl am Platz sei. In den zukünftigen Sitzungen fragte mich meine Psychologin einmal: „Warum sind sie nicht früher gekommen?” Ich sagte zu ihr, dass ich noch nicht einmal wusste, dass ich ein Problem hatte. Traumata blieben in meiner Familie lange Zeit unausgesprochen. Sie wurden in Form von Witzen trivialisiert oder verdrängt.

Aber wie kam es zu dieser Einsicht? Ganz einfach: indem ich aus dem System „Familie” austrat. Ich zog für mein Studium aus – wenn auch nur eine Fahrtstunde von meiner Heimat, doch trotzdem weit genug entfernt.

Bei meinem Studium traf ich auf Menschen, die mir ähnelten: Kinder mit Migrationshintergrund, oft die Ältesten in der Familie und auf der Suche nach sich selbst. Diese Menschen, die ich heute als meine Freund*innen bezeichnen darf, gaben mir das Gefühl, valide zu sein. Mit dem, was ich spüre, denke und fühle. Mit allem, was ich bin. Auf diese Weise konnte ich die Liebe meiner Eltern, die an zu viele Bedingungen geknüpft war, durch die bedingungslose Liebe in meinen Freundschaftsbeziehungen ersetzen. Meine Freund*innen gaben mir das Gefühl, mich mit ihnen verständigen zu können, ohne zu viele Worte zu verschwenden. Sie gaben mir einen Raum, in dem ich mich entfalten konnte. Das fühlte sich befreiend an.

Ein Raum für mich

Nicht selten griffen meine Eltern diesen Raum an, weil sie Angst hatten, mich und damit die ganze Familie zu verlieren. Für sie war meine Unabhängigkeit eine Bedrohung des familiären Zusammenhalts. Hätte ich zu dem Zeitpunkt nicht meine Freund*innen gehabt, hätte ich zu sehr an mir gezweifelt und den Kampf zu früh aufgegeben. Ich setzte zum ersten Mal in meinem Leben Grenzen, um mich selbst zu bewahren. Der Schock und der stille Vorwurf meiner Eltern, die Familie verraten zu haben, war die erste Angriffsreaktion auf meinen gesunden Egoismus.

Meine Therapeutin war eine Französin. Anfangs hatte ich Bedenken, ob sie mich überhaupt verstehen würde, weil wir nicht denselben kulturellen Hintergrund hatten. Sie stellte sich aber als sehr empathisch und klug heraus und wir verstanden uns vom ersten Treffen an.
Trotzdem bestätigte sich meine anfängliche Sorge, dass sie mich nicht immer verstehen würde. So geschah ihr während einer unserer Sitzungen ein faux pas: Sie fragte mich, wie ich die Freiheit meiner „deutschen“ Freundinnen einschätze, um mir direkt danach zu bescheinigen, dass ich in Wahrheit danach strebte, „eine deutsche Frau zu sein”. Ich lachte in dem Moment und entgegnete, dass sie es sich zu einfach mache, ich schon eine deutsche Frau sei und nur danach strebe, ich zu sein.

„Ich möchte ich sein”

Sie hatte mich auf meinen Migrationshintergrund reduziert und nicht erkannt, dass ich mich selbst schon für erstrebenswert hielt. Das passiert mir häufig. Das Gefühl, in dem Blick anderer gefangen zu sein und nicht als ein ganzer Mensch wahrgenommen zu werden.

Hinzu kam, dass ich mich wie das schwarze Schaf der Familie fühlte. Das Gefühl verschärfte sich durch die Therapie. Ich konfrontierte meine Familie mit den Vorwürfen, die an dem idealisierten Familienbild rüttelten, an dem sie festzuhalten versuchten. In diesen Zeiten waren mir meine Freund*innen eine Stütze, die mir immer wieder versicherten, dass ich das Richtige tat und keine Unruhestifterin war. Mit der Zeit nahmen auch die Schuldgefühle ab. Ich war weniger angreifbar und konnte selbst bei den größten emotionalen Erpressungen für mich einstehen. Ich sah ein, dass es okay ist, nicht jede Tür für meine Familie offen zu halten.

Und auch der Spruch meines Opas hat eine andere Bedeutung für mich erfahren: Durch das Studium konnte ich retten, was von meiner Identität übrig geblieben war.


Illustration: Klara Heller