Ständig reden wir von Dingen, die wir ausprobieren wollen und viel zu oft bleibt es bei dem Gedanken. In unserer Rubrik „Einmal im Leben“ ändern wir das. Diesmal: Reality-TV hautnah. Wenn du plötzlich nicht mehr auf der Couch sitzt, sondern mittendrin.

„Dann geh‘ schon mal ins Studio hinten links, das Vorsprechen beginnt in 10 Minuten“ – Moment mal, das Vorsprechen? Eigentlich bin ich doch hergekommen, um mich als Komparsin registrieren zu lassen. Verwirrt schaue ich die junge Frau im roten Glitzertop an. Hat sie mich verwechselt? Bin ich bei der falschen Adresse gelandet? Grinsend drückt sie mir ein paar Zettel in die Hand und lässt mich mit den Worten „Viel Glück“ in der Eingangshalle zurück. Ich hab das doch noch nie gemacht, schießt es mir durch den Kopf. Wie soll das gehen? Wird das jetzt super peinlich? Soll ich mich einfach wieder umdrehen und gehen? „Der Nächste bitte“ ertönt die grelle Stimme der Glitzertop-Frau und reißt mich aus meinen Gedanken. Als wäre ich aufgefordert worden weiterzugehen, laufe ich schnurstracks den Gang entlang, bis ich vor der Tür stehe, auf der in großen roten Buchstaben CASTING steht. Was fällt der eigentlich ein? Ich soll jetzt aus dem Nichts ein Casting machen? Noch kann ich gehen, einfach umdrehen, zur S-Bahn laufen und das hier vergessen. Noch ist alles möglich. 

Da geht die Tür auf. Ein freundlicher Mann bittet mich rein und erklärt, dass ich am Casting teilnehmen könne. Will ich? Will ich nicht? Ich spüre, wie Angst in mir aufsteigt, doch neugierig bin ich irgendwie auch. Wie läuft das ab? Kriege ich das hin? Ich entscheide mich vorerst zu bleiben und blicke auf den mittlerweile recht zerknitterten Zettel in meinen schweißnassen Händen. „Du erfährst von deinem besten Freund, dass du von deinem Freund betrogen wurdest“, lese ich und überfliege die kurze Handlung, die ich hier gleich vor kleinem Publikum und der Kamera vorspielen soll. „Die Kamera übernimmt die Rolle deines besten Freundes“ Auweia…

Das verwöhnte Mädchen

„Action“, das rote Licht an der Kamera vor meinem Gesicht beginnt zu leuchten. Plötzlich blende ich alle Augen aus, die mich von der Seite her erwartungsvoll anschauen. Meine Augen füllen sich mit Tränen und schluchzend spucke ich der Kamera verletzte Worte entgegen. „Dankeschön, das war’s“, ruft jemand. Nach einem kurzen Höllentrip durch die Tiefen meiner Fantasie ist es geschafft. Vor Erleichterung atme ich auf, schnappe mir meine Tasche und laufe mit guter Laune zur S-Bahn. Ich habe es tatsächlich gemacht.

Eine Woche später steht ein Besuch in der Heimat an. Wir sitzen am Tisch, essen Apfelstreusel-Kuchen und trinken Tee, als mein Handy klingelt. Eine unbekannte Nummer. Es ist Filmpool, sie haben mein Castingvideo gesehen und wollen mich für „Berlin Tag und Nacht“ haben, in ganzen zehn Folgen. Ich bin überfordert. Ist das nicht diese bescheuerte Serie, von der früher in der Schule erzählt wurde? Irritiert erzähle ich meinen Eltern vom Telefonat. Soll ich das machen? Wird mir das die Karriere verbauen? Könnte es eine interessante Erfahrung sein? Nach langem Überlegen und der Feststellung, dass ich in den Semesterferien ohnehin noch nichts vorhabe und das Geld gut für mein anstehendes Auslandssemester gebrauchen könnte, sage ich zu. Ohne den Hauch einer Ahnung, auf was ich mich da einlasse. 

In den nächsten Wochen kommt es zu Vorgesprächen, Kostümanproben und Kennlerngesprächen. Ich soll das verwöhnte Mädchen aus gehobenem Hause verkörpern, das den ungezähmten Jungen einer Teenie-WG trifft und sich Hals über Kopf verliebt. So ganz kann ich mich mit der Figur noch nicht identifizieren, doch den größten Respekt habe ich vor den Sexszenen. Kann ich das glaubwürdig spielen? Wie ist das mit einem fremden Typen und einem Kamerateam daneben? 

Kurzer Ausbruch in die Wirklichkeit

Schon bald steht der erste Drehtag bevor. Nachdem ich mit einem schwarzen Van abgeholt wurde, die „Storyskripte“ genauestens studiert und einige Szenen nach meinem persönlichen Geschmack umgeschrieben habe, geht es los. Verständnisvoll geht die Regisseurin auf mich ein, akzeptiert, dass ich meine Hose anlassen möchte und sieht mit zwei Kameramännern und ein paar Assistentinnen dabei zu, wie ich als Janin knutschend in den Armen von Pascal liege. Nach ein paar Versuchen und einem trockenen Mund ist die Szene „im Kasten“ und es gibt Essen. Schnell muss es gehen, denn es sollen noch weitere Szenen gedreht werden. Weichgekochte Nudeln, Tomatensoße, Weintrauben und ein paar Schokoriegel stehen bereit. Wir setzen uns auf wackelige Bierbänke und kommen zum ersten Mal privat ins Gespräch. Eine Darstellerin erzählt, dass sie die Schule abgebrochen habe, um in der Serie spielen zu können. Eine Weitere berichtet vom tragischen Familienschicksal und dem Neuanfang in der Hauptstadt, den ihr die Reality-Serie ermöglicht habe. Doch schnell vereinnahmt die Fiktion am Set diesen Ausbruch in die Wirklichkeit. 

Die Social-Media-Beauftragte gibt Anweisungen, wie ich mit Pascal verliebt im Bett liegen soll, um die Bilder später auf den Facebook-Profilen unserer Seriencharaktere zu posten. Was wird sie im Namen von Janin wohl darunter schreiben? Wie wird mich die Fangemeinschaft beurteilen?

Ich bin eine von euch

In den nächsten Tagen folgen Szenen im Park, im Club und in einer Potsdamer Villa. Dann wird in einer Gartenlaube ein Rave nachgestellt. Viele Komparsen und Komparsinnen sind gekommen und werden in einem kleinen Raum betreut, abgeschottet von uns Darsteller*innen. Als ich einigen auf der Toilette begegne, schauen sie mich staunend an, fragen, wie ich es geschafft habe, Schauspielerin zu werden und ob wir später ein Foto machen könnten. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Ich habe das Gefühl, so viele Erwartungen erfüllen zu müssen, ohne dass ich mich verändert habe. Ich bin doch keine Schauspielerin, ich bin eine von euch.

Wir drehen einen Drogentrip. Immer wieder renne ich als Janin verzweifelt durch die Büsche, breche in Tränen aus und rufe nach Hilfe. Meine Augen sind knallrot vom Tränenersatzmittel, das sich unter meine natürlichen Tränen mischt. Alles scheint mir wie eine zweite Realität, in der ich nicht mehr Ich, sondern eine Marionette bin. Ich höre die Rufe der Regisseurin, sehe die Kameramänner um mich herumlaufen und habe das Gefühl, die Kontrolle über mein eigentliches Ich zu verlieren. Meine Gefühle fahren Achterbahn, ich habe „Sex im Auto“, liege kurz darauf im Laub auf dem Boden und beende meine Zeit bei „Berlin Tag und Nacht“ im Krankenhaus. Dann höre ich die Worte „Wir sind durch für heute“ und mir wird bewusst, dass es nun vorbei ist. Vor mir stehen Menschen, die ich privat kaum kenne und die mir zugleich so nah sind. Die Grenze zwischen Privatleben und Show verschwimmt zusehends und ich merke, wie ein kleiner Teil von mir Janin geworden ist. 

Endlich im Fernsehen?!

In den kommenden Wochen wächst die Aufregung, bis es plötzlich so weit ist. Ich starre auf mein Handy, als die erste Folge läuft. Das bin ich. Ich in meinem Lieblingskleid, ich in meiner Unterwäsche, ich am Lachen, ich am Weinen. „Das schaut doch sowieso keiner“, rede ich mir ein und merke, wie viel ich von meinem wirklichen Ich preisgegeben habe. Es folgen erste Fanpages und niedliche Insta-Nachrichten. Es fühlt sich befremdlich gut an. Fast täglich checke ich die Kommentare unter den Posts. Findet mich die Community gut? Ich ertappe mich dabei, jeden negativen Kommentar persönlich zu nehmen. Ich merke, dass mich Janin nicht loslässt. Wie hält man diesem Druck stand, frage ich mich. Wie gelingt es, sich nicht zu verlieren? Kann man in seiner Rolle untergehen? Schmunzelnd blicke ich auf die vielen Erfahrungen zurück, dankbar für jeden einzelnen Tag und mit dem klaren Wissen, nicht für eine Daily Soap gemacht zu sein.


Illustration: Lotte Marie Koterewa