Migräne gleich Kopfschmerzen? Nicht unbedingt. Die neurologische Erkrankung, deren genaue Ursachen nicht bekannt sind, hat viele Facetten. Eine davon ist Schwindel. Über das Leben mit vestibulärer Migräne.

Ich habe Migräne. Diesen Satz habe ich schon so oft gesagt, dass ich es nicht mehr zählen kann. Meistens wird mir dann etwas entgegnet wie: „Oh ja, Kopfschmerzen, wie blöd…“ Oder: „Willst du eine Schmerztablette?“ „Nein“, sage ich dann. Ich habe Migräne ohne Kopfschmerzen. Vestibuläre Migräne. Mir ist schwindelig. Schon erkenne ich Verunsicherung in den Gesichtern meiner Mitmenschen. Damit haben sie nicht gerechnet. 

Tatsächlich beschreiben aber circa 30 Prozent aller Migräniker*innen Schwindel im Zusammenhang mit ihren Attacken. Laut Johns Hopkins Medicine könne die vestibuläre Migräne Schwindel hervorrufen, sowohl mit als auch ohne Kopfschmerzen. Weitere Symptome können „Sehstörungen, ein Flackern vor den Augen, eine Überempfindlichkeit für Licht und eine Überempfindlichkeit für Geräusche“ sein, so der Schwindelexperte und Professor für Neurologie der Schlosspark-Klinik Berlin, Thomas Lempert. Seit 2010 arbeitet er im Klassifikationskomitee für vestibuläre Erkrankungen der International Bárány Society und koordinierte außerdem die Wissenschaftler*innengruppe zur Definition der vestibulären Migräne.

Obwohl erste Forschungen zum Zusammenhang von Schwindel und Migräne bereits im 19. Jahrhundert stattgefunden haben, begannen systematische Studien dazu erst im 20. Jahrhundert. Und eine erste Diagnostik der vestibulären Migräne existiert erst seit den 1980er Jahren. Lempert erklärt, dass das einerseits damit zu tun habe, dass die meisten Schwindelpatienten zunächst mal zum HNO-Arzt weitergeleitet würden. Auch international habe die HNO die Hauptzuständigkeit für Schwindel, einfach weil das Gleichgewichtsorgan im Innenohr liege. „Aber Kopfschmerzen sind was Neurologisches”, betont er. Andere Symptome, die die Patient*innen hätten, seien nicht beachtet worden. Erstaunlich sei, wie selektiv die ärztliche Wahrnehmung sei. Andererseits hätten die Schwindel-Spezialisten erst sehr spät angefangen, ihre Krankheiten genau zu definieren und voneinander abzugrenzen.

Fehlende Forschung produziert Wissenslücken

Diese Forschungslücke bedeutet für viele Betroffene systematische Ausgrenzung. Meine Schulzeit war durch die ableistischen Sticheleien meiner Mitschüler*innen auf der einen Seite und das mangelhafte Schulsystem auf der anderen geprägt: Angefangen von Lehrer*innen, die glaubten, ich würde mir meine Erkrankung nur ausdenken, um Aufmerksamkeit zu erregen, bis hin zu folgender Situation im Lebenskundeunterricht: Obwohl ich im Vorhinein klar kommuniziert hatte, dass ich die anstehende Übung, bei der uns die Augen verbunden werden sollten, aufgrund meiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht mitmachen könnte, wurde ich übergangen.

Nach kurzer Zeit wurde mir schwindlig und ich musste mich übergeben. Laut Lempert werden Migränesymptome durch eine Überempfindlichkeit des Gehirns ausgelöst: „Insbesondere die Sinnessysteme können Symptome produzieren“. Weiter beschreibt der Neurologe Schwindel als das Verlorengehen von Sicherheit in der Welt. In meinem Fall ausgelöst durch das temporär eingeschränkte Sehvermögen. Die über lange Zeit nicht existente Forschung führt also zu fehlender Aufklärung und somit zum unsensiblen Umgang mit der Krankheit zum Beispiel durch Pädagog*innen. 

Eine Migräneattacke kann auch durch Überforderung ausgelöst werden. Da ist es nicht verwunderlich, dass ich direkt bei der Einführungsveranstaltung an der Universität eine Migräneattacke bekommen habe. Ich saß in der ersten Reihe und habe mich nur einmal nach hinten umgeschaut, sah das sich bewegende und lärmende Meer von Menschen – da war es geschehen. Ich kann mich an viele Einzelheiten der Attacke nicht mehr erinnern. Das ist auch so eine Sache: Erinnerung. Wahrnehmung. Alles ist sehr schwammig.

Auslöser für Migräne können individuell sehr variieren. Viele würden ihre Auslöser kennen, so Lampert. Andere müssten jedoch lernen, hinzugucken, ob Schlafmangel, ausgelassene Mahlzeiten, zu wenig trinken oder zu wenig Pausen eine Rolle spielen würden. Das Migränegehirn sei empfindlich, auch gegenüber solchen Rhythmusstörungen. Das Stresslevel und die Lebensrhythmen sollten gleichmäßig und flach gehalten werden, rät der Experte.

Meine Erfahrung hat gezeigt, dass darüber hinaus Wetterumschwünge mögliche Trigger sein können, ebenso wie bestimmte Nahrungsmittel, Alkohol und hormonelle Veränderungen. Letztere sind auch der Grund dafür, dass mehr Personen mit Uterus als ohne von Migräne betroffen sind. Laut RKI haben 14,8 Prozent der Frauen in Deutschland Migräne, aber nur sechs Prozent der Männer. Und die Häufigkeit, mindestens einmal im Leben vestibuläre Migräne zu bekommen, läge bei etwa drei Prozent, so Lambert.

Um durch das beschriebene Krankheitsbild entstehende Einschränkungen im universitären Rahmen auszugleichen, gibt es den sogenannten Nachteilsausgleich. Dieser soll allen Student*innen ein chancengleiches Studium ermöglichen. Dabei soll er individuell auf die Bedürfnisse der Studierenden angepasst werden. Inzwischen wirbt die HU sogar damit, dass es einen studiumsbedingten und einen prüfungsbedingten Nachteilsausgleich gebe. Also einen Ausgleich, der während des Semesters erfolgen kann und sich beispielsweise auf Referate oder die Anwesenheit bezieht, und einen, der die Prüfungen betrifft. Als ich den Antrag auf Nachteilsausgleich 2018 gestellt habe, war von Ersterem keine Rede. Entweder wurde das damals schlecht kommuniziert oder die Uni hat die Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs in den letzten Jahren erweitert. Für mich war das jedenfalls keine gute Dauerlösung, auch weil ein Nachteilsausgleich jedes Semester neu und für jede Prüfung einzeln beantragt werden muss, was bei einer chronischen Erkrankung nicht wirklich zielführend ist. 

Abschluss – und dann?

Oft mache ich mir Sorgen, wie meine Zukunft aussehen wird. In anderthalb Jahren werde ich mein Masterstudium beendet haben. Doch was dann? Ich möchte irgendwann hauptberuflich Journalistin sein, um über Missstände zu berichten und soziale Schieflagen aufzudecken. Werde ich Schwierigkeiten haben, mit meiner Krankheit einen Job zu finden? Wie werden zukünftige potenzielle Arbeitgeber*innen darauf reagieren? Werden sie mich für zuverlässig halten oder gehen sie das Risiko lieber gar nicht erst ein? Auch wenn es inzwischen laut Lempert viel Forschung zum Migräneschwindel gegeben habe, kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen, dass die vestibuläre Migräne immer noch kaum bekannt ist. 

Ununterbrochen setze ich mich mit einer Erkrankung auseinander, deren Namen viele noch nicht einmal gehört haben. Jeden Tag aufs Neue setze ich mich damit auseinander, wo meine Grenzen liegen, was ich kann und was nicht: Achterbahn fahren, 3D-Filme, Parties – alles out of the question für mich. Und immer wieder muss ich mich mit Menschen auseinandersetzen, die mangels richtiger Aufklärung unüberlegte Aussagen tätigen, denn: Ich habe Migräne. Ohne Kopfschmerzen.


Illustration: Céline Bengi Bolkan