Auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es immer noch Unterschiede zwischen Westdeutschland und den „Neuen Bundesländern“. Einer davon ist die Familienplanung. Über erschwerte Arbeitsbedingungen mit Kind im Westen und die Folgen der vielen Betreuungsangebote im Osten.

Julia ist 26 Jahre alt, hat ein Kind und ist momentan schwanger mit dem zweiten. Ursprünglich kommt sie aus Calbe, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, seit einigen Jahren lebt sie jedoch gemeinsam mit ihrem Mann in Mainz. Die 22-jährige Hanna* kommt aus Bayern und ist vor zwei Jahren nach Berlin gezogen, um dem Landleben zu entfliehen. Sie ist sich zwar sicher, dass sie mal Kinder möchte, allerdings noch nicht jetzt. Die Befürchtung, etwas zu verpassen, sei  zu groß: „Ich arbeite aktuell noch in einem Job, in dem Mindestlohn gezahlt wird. Ich hätte Angst, da stecken zu bleiben und nicht an meiner Karriere arbeiten zu können, weil ich mich um’s Kind kümmern muss. Ich möchte Kinder haben, aber erst, wenn ich etwas etabliert habe, ein Studium abgeschlossen zum Beispiel“, sagt Hanna.

Ganz anders sah das bei Julia aus. Sie hatte schon immer einen stark ausgeprägten Kinderwunsch, der sich zu Beginn ihres Studiums in Mainz derart verstärkte, dass sie psychisch unter dessen anfänglicher Unerfüllbarkeit litt. Sie wusste, dass sie nicht im ersten Semester schwanger werden konnte, das würde nicht funktionieren. Zudem sei es gesellschaftlich nicht akzeptiert gewesen, so frisch zu studieren und gleichzeitig Mutter zu werden: „Meine Freunde haben gesagt: ‚Julia, du hast doch gerade angefangen, zu studieren, du kannst doch jetzt kein Kind kriegen‘“.

Nach vier bis fünf Semestern konnte sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, hatte vom Kinderwunsch gesteuerte psychosomatische Beckenbodenschmerzen. Also beschlossen sie und ihr Partner, es einfach zu versuchen. Julia wurde sofort schwanger und stand nun vor der Herausforderung, als Jung-Mutter ihr Studium zu beenden. Das würde sie so nicht nochmal machen, berichtet die gelernte Erziehungswissenschaftlerin. Die Zeit, die ihr Kind gerade nicht bei ihr war, habe sie damit verbracht, ihre Bachelorarbeit zu schreiben. Unterstützung durch die Uni? Fehlanzeige. Julia erzählt, sie wisse nicht, ob sie Anspruch auf einen Krippenplatz gehabt hätte. Sie wollte ihren Sohn aber auch nicht so früh abgeben. Schließlich hat sie ihn im Kindergarten ab dem ersten Lebensjahr angemeldet, da ihr klar wurde, dass sie nach dem Studium arbeiten müsse.

Familienplanung: eine Frage der Sozialisation?

Doch gibt es nach wie vor regionsbezogene Unterschiede? Die Wende liegt bereits über dreißig Jahre zurück.

Ja, sagt Julia, auch heute sei noch eine Trennung spürbar. Familienplanung etwa sei im Osten von viel größerer Bedeutung . Das sei aber auch kein Wunder: „In Ostdeutschland war es so, dass die Mütter gleich wieder arbeiten gingen. Es gab ja auch diese Wochenkrippen, wo die Kinder als Babys schon eine ganze Woche am Stück in die Fremdbetreuung gegeben wurden. Das gab’s nur in der DDR und nicht im Westen.“ Dort habe hingegen eher das „Hausfrauenmodell“ dominiert. Diese Strukturen würden sich bis heute durchziehen, so Julia: „Als ich angefangen habe, als Pädagogin zu arbeiten, konnten meine Kollegen und die Eltern gar nicht glauben, dass ich einen einjährigen Sohn habe und schon wieder arbeite. Hätte ich aber im Osten angefangen, in Sachsen-Anhalt zum Beispiel, wäre das kein Problem. Auch wenn das Kind krank ist: Klar, das ist immer blöd für den Arbeitgeber. Aber dort wird das nicht so verpönt, wie das hier der Fall ist. Im Endeffekt wurde mir nach sechs Monaten gekündigt, weil mein Kind öfter mal krank war.“

Die Forschung stützt Julias Beobachtungen. Eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes 2022 zeigt, dass in den „Neuen Bundesländern“ die Besuchsquote von unter Dreijährigen in Kindertageseinrichtungen bei 53,3 Prozent liegt. In Rheinland-Pfalz, wo sich Julias derzeitiger Wohnort befindet, liegt diese Quote bei 30,6 Prozent. Außerdem bestehen nach wie vor große Unterschiede in der Verbreitung von Kinderlosigkeit: Laut dem Statistischen Bundesamt lag der Anteil der Frauen** ohne eigene Kinder bei den 45- bis 49-Jährigen in Westdeutschland 2018 bei 22 Prozent und war somit um einiges höher als in Ostdeutschland, wo er nur bei 15 Prozent lag.

Auch Julia berichtet von dieser Spaltung. Sie habe nur kinderlose, westdeutsche Freund*innen und nur ostdeutsche Freund*innen mit Kindern, erzählt sie. Warum das so ist und warum die ostdeutschen Eltern immer noch jünger sind als die westdeutschen – auch wenn sich das inzwischen laut Statistischem Bundesamt ganz gut angeglichen hat – wisse sie nicht. Sie vermutet, dass es daran liege, dass sich die Menschen im Osten eher daran orientieren, wann es von der Natur vorgesehen sei, Kinder zu bekommen. Viele ihrer westdeutschen Freund*innen seien in dieser Hinsicht „moderner“ eingestellt und würden erstmal Karriere machen oder Zeit für sich haben wollen – so wie Hanna.

Die Kehrseite

Hanna hat selbst erlebt, wie existentiell herausfordernd es sein kann, mit jungen, studierenden Eltern aufzuwachsen: Beide ihrer Eltern sind Musiker*innen und befanden sich noch im Studium, als sie und ihre Geschwister geboren wurden. „Ich hab’ mit meiner Mutter öfter darüber gesprochen, wie das für sie war und sie meinte, das Geld war immer knapp. Sie waren nicht komplett auf sich allein gestellt, hatten zum Glück Freunde, die sie unterstützt haben, aber insgesamt war das nicht so optimal für den Beruf. Inzwischen sind beide Lehrer.“

Obwohl in den „Neuen Bundesländern“ nach wie vor mehr Kleinkinder fremdbetreut werden als in den westlichen, obwohl im Osten mehr Verständnis seitens der Arbeitgeber*innen gezeigt wird, wenn das Kind krank ist, sieht Julia doch nicht alles positiv: Vor vierzig Jahren habe man in Westdeutschland keine Krippenplätze gebraucht, denn Frau habe sich um die Kinder gekümmert. Und natürlich habe es irgendwie funktioniert, Arbeit und Kinder in der DDR unter einen Hut zu bringen. Das haben dort alle so gemacht. Doch hinterfragt, wie gut das für Mutter und Kind ist, habe keine*r: „Man hatte von morgens bis abends Dienst, danach war der Haushalt dran. Wenn das Kind geschrien hat, war das eben so. Heute ist man da viel empathischer.“


* Name von der Redaktion geändert.

** Formulierung des Statistischen Bundesamtes. Es ist nicht erkennbar, ob auch Personen anderer Geschlechtsidentitäten erfasst wurden.

Illustration: Büsra Koc