Mit sechs Jahren floh Umzhana mit ihrer Familie vor dem Ersten Tschetschenienkrieg, in dem Russland als Aggressor auftrat. Heute studiert sie Zahnmedizin in Deutschland mit russischem Pass. Dass ihre Eltern trotzdem russische Propaganda konsumieren, hat für viele Konflikte in der Familie und ein zunehmendes Gefühl der Entfremdung gesorgt.

UnAuf: Was bewegt dich an dem Krieg in der Ukraine?

Umzhana: Mich bewegt es insbesondere, dass ein Krieg aufgrund von Misskommunikation entstanden ist. Was dazu führt, dass friedliche Leute, die schon immer miteinander harmoniert haben, verfeindet und gewisse Gruppen ausgeschlossen werden. Am meisten erschüttert mich jetzt, dass Kinder aus ihrem Umfeld gerissen werden.  Auch wenn sie nach Deutschland kommen, wo es ihnen letztendlich besser geht, verlassen sie ihre Heimat. Dadurch, dass ich selbst diese Fluchterfahrung gemacht habe, kann ich mir vorstellen, wie es ihnen damit ergeht. 

Wie informierst du dich aktuell über den Krieg?

Dadurch, dass ich immer wieder meine Eltern besuche, bekomme ich den Input aus den russischen Medien mit und höre mir natürlich alles an, was die deutschen und russischen Medien sagen. Ich sauge alles auf, aber letztendlich ist die einzige objektive Quelle meiner Meinung nach die Erfahrung der Menschen, die aus dem Land fliehen mussten. Durch meine Arbeit habe ich sehr viele Berührungen mit ukrainischen Geflüchteten und höre mir immer wieder ihre Erfahrungen an. Dank meiner Russischkenntnisse komme ich leicht mit ihnen ins Gespräch und sie sind auch sehr offen. Für mich sind diese Zeugenberichte die 100 Prozent wahren, unzensierten Quellen. 

Wenn du deine Eltern besuchst und die russischen Nachrichten mitbekommst: Wann kannst du feststellen, wo Propaganda anfängt und aufhört?

Ich habe mir irgendwann mal die Meinung gebildet, dass russische Nachrichten Propaganda sind, da ich durch mehrere Beispiele gesehen habe, dass sie zensiert sind. Das war noch ganz am Anfang, da kam beispielsweise in der Prime Time einer russischen Nachrichtensendung eine Journalistin mit einem Schild raus und hat auf den Krieg aufmerksam gemacht. Sie wurde direkt gekündigt und in U-Haft gebracht. Allein das sind Beispiele, die zeigen, dass man seine Meinung nicht frei äußern kann. Zusätzlich gibt es politische Talkshows in etablierten Sendern, die auch zur Prime Time ausgestrahlt werden. Diese Shows erreichen oft die Altersklasse meiner Eltern, die zu der größten Wahlgruppe gehören und sich hauptsächlich über das Fernsehen informieren. In diesen Talkshows werden ununterbrochen Menschen mit gegensätzlichen Meinungen eingeladen: Zum Beispiel Vertreter amerikanischer Politiker oder Ukrainer. Die Diskussionen in den Shows werden dann so konzipiert, dass diese Menschen kaum dazu kommen, ihre Meinung zu sagen und fertig gemacht werden. Sogar von dem Moderator, der eigentlich das Gespräch führen muss. In solchen Momenten merke ich, dass im russischen Fernsehen viele Meinungen zensiert werden – das ist Propaganda. Und auch bei Werbeunterbrechungen wird immer wieder die russische Flagge eingeblendet. Warum braucht man das im Fernsehen? Das wäre in Deutschland komisch, aber in Russland ist das normal. 

Hast du auch russische Propaganda mitbekommen, die sich speziell auf Russlands Krieg gegen die Ukraine bezieht?

Ja, ich kann mich an die Details nicht mehr so genau erinnern, aber es war ein Vorfall mit einem Krankenhaus in der Ukraine, das von den russischen Streitkräften bombardiert wurde. Dort gibt es spezielle Krankenhäuser für Gebärende. In den russischen Nachrichten  hieß es, dass das Krankenhaus bombardiert wurde, weil sich auf dem Dach organisierte Neonazi-Gruppen befänden. Russland verbreitet ja das Narrativ, dass sie die Ukraine von Neonazis befreien möchten. Außerdem meinte man, dass sich in dem Krankenhaus keine Patienten mehr befanden. Als eine Bloggerin aber das verneinte, wurde sie als Schauspielerin von den russischen Nachrichten denunziert, die gegen Geld falsche Nachrichten verbreite. 

Deine Eltern konsumieren ja genau diese Art von Nachrichten. Was löst das bei dir aus?

Ich frage mich dann: Wie konnten diese Menschen mich erziehen? Ich habe die Fähigkeit dazu, mir eine kritische Meinung zu bilden. Auch wenn meine Mutter mit deutschen Nachrichten konfrontiert wird, ist ihr Gegenkommentar, dass die deutschen Medien sie in ihrer Meinung überzeugen, dass Deutschland was gegen Russland hat. Sie versucht jedes Mal, dieses Narrativ aufrechtzuerhalten.

Warum, denkst du, glauben deine Eltern der russischen Propaganda?

Der erste wichtige Grund ist wahrscheinlich, dass sie bis zum Kriegsausbruch nur russische Medien und Inhalte konsumiert haben. Auch auf sozialen Netzwerken. Und obwohl im Internet nicht so viel zensiert wird wie im Fernsehen, gucken sie sich alles Mögliche an. Auf Instagram verbreiten sich sogar mehr Fake News als in russischen Social Media-Kanälen, die einen manipulieren können. Dadurch, dass sie sich so einseitig informieren, glauben sie auch eher der russischen Propaganda. Andererseits fühlen sie sich sehr stark Russland verbunden: auf Grundlage der Sprache, Heimat, Kultur…alles. Sie wollen auch, dass der Krieg sofort aufhört, weil er viele Schäden mit sich bringt. Das nimmt sie auch mit. Und sie wollen nicht glauben, dass die Politiker ihres Landes zu solchen Kriegsverbrechen fähig sind. Deswegen glauben sie lieber der Lüge. 

Gab es deswegen auch schon Konflikte bei euch? 

Ja, die Situation ist deswegen sehr angespannt. Ganz am Anfang sagte ich ihnen, dass ich keine russischen Nachrichten schauen möchte, wenn ich sie besuchen komme. Aber dadurch, dass meine Eltern immer Nachrichten schauen, wird das schwierig. Generell will ich ihnen auch nicht vorschreiben, was sie in ihrem eigenen Haus tun sollen. Aber ich verstehe sie auch: Wir Dagestaner sind auch vom Ukraine-Krieg betroffen, weil Russland unser Mutterland ist und viele unserer Verwandten dort leben. Mein Onkel hat als Soldat für Russland gekämpft. Sie machen sich dann Sorgen, das verstehe ich. Die sind da zu sehr drin, um das Ganze objektiv zu betrachten. Das führt dann zu hitzigen Diskussionen in Familiengruppen auf WhatsApp, in denen ich auch drinnen bin. In solchen Momenten kann ich mir meine Meinung nicht verkneifen. Wenn die Debatte  beispielsweise einen Punkt erreicht hat, wo jede Logik verloren gegangen ist, dann frage ich sie provokativ, woher sie das wissen wollen, was sie verbreiten oder wo sie ihre Quellen beziehen. Und das endet meistens unschön. Es endet meistens darin, dass wir Kinder als Verräter von unseren Eltern wahrgenommen werden. In ihren Augen vertreten wir dann die Seite von Europa und Deutschland. 

Was wird noch in den Gruppen verbreitet?

Manchmal gehen Listen von russischen Soldaten in der Gruppe  rum, die zeigen sollen, wer zurückkehren kann und wer im Krieg gefallen ist. Das führt dann zu emotionalen Momenten, weil mein Onkel im Krieg war. Vor einiger Zeit kamen drei Bilder mit einem Text, in dem eine dagestanische Frau sich darüber beschwert, dass sehr viele Verbrechen von russischen Soldaten begangen werden, wie Diebstähle und andere Delikte. Meine Mutter meinte dann direkt ‘Das kann auch Fake sein’. Und dann denke ich mir so ‘Aha, dann müssten also alle Nachrichten von der russischen Seite unbedingt wahrhaftig sein’. Das ist ein Beispiel dafür, dass sie schon eine vorgefertigte Meinung haben und nicht offen sind für andere Perspektiven. Das ist einfach nur traurig. Ich bezeichne die ganze Situation mit einem Wort: traurig.


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