Über 1.000 Menschen fanden sich am 21. Mai bei einer hybriden Veranstaltung zusammen, um sich dem Thema „Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden“ zu widmen. Der Kongress, der nicht nur mithilfe schwacher Argumente den Waffenlieferungsstopp in die Ukraine forderte, sondern sogar ein pro-russische Einstellung propagierte, fand im Hauptgebäude der Humboldt-Universität statt. Es gilt zu hinterfragen, ob die HU einer solchen Veranstaltung eine Bühne bieten sollte.
An diesem Tag gab es zahlreiche Reden. Unter den Sprecher*innen befanden sich beispielsweise Anu Chenoy, Alexej Gromyko, Oskar Lafontaine, Yuri Sheliazhenko und Ann Wright. Virtuell trafen sich demgemäß die unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Ländern. Eines hatten sie alle gemeinsam: ihre Meinung über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und über die NATO. Zwei zentrale Forderungen der Redner*innen waren der Austritt Deutschlands aus dem transatlantischen Militärbündnis, der als die einzig wahre linke Haltung postuliert wurde, sowie die Beendigung der Waffenlieferungen in die Ukraine.
Universität als Messegelände für Unwissenschaftlichkeit?
Zunächst scheint dies nicht besonders problematisch, da ein solch komplexes Thema, wie es hier behandelt wurde, unvermeidlich diverse Meinungen hervorbringt. Über diese Thematik in einem wissenschaftlichen Rahmen an einer Universität zu diskutieren, ist demnach auch legitim. Schließlich gibt es Uneinigkeiten zwischen Politiker*innen und Expert*innen bezüglich des Umgangs mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch auf diesem Kongress sprachen nicht nur Politiker*innen und Expert*innen. Im Gegenteil waren die meisten Sprecher*innen wenn überhaupt selbsternannte Expert*innen. Enttäuschend war auch die Diskussion über das Thema, die im eigentlichen Sinne keine Diskussion war, sondern eine Meinungsbestätigung sowohl der Redner*innen als auch der Teilnehmer*innen. Die Beteiligten wagten es nicht, ihre eigenen Meinungen in Frage zu stellen.
Unwillkürlich musste an Mely Kiyaks Kolumne „Russland-Ukraine-Krieg: Keine Ahnung, keine Meinung“ denken. „Auch drei Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine habe ich kaum eine Ahnung, was da gerade vor sich geht“, beginnt die Journalistin den Text. Ihre Worte stoßen auf Resonanz. Sowohl bei mir selbst, als auch bei Freund*innen nehme ich das Verstummen beim Thema „Russland-Ukraine-Krieg“ wahr. Das Lesen von Nachrichten und Artikeln, Gespräche mit Freund*innen und kritisches Reflektieren erzeugen bei mir wenn überhaupt das Gefühl, die Oberfläche angekratzt zu haben. Die Ebene des Verstehens liegt so weit entfernt, dass es fast unmöglich erscheint, sie zu erreichen.
Im Gegensatz dazu schien das vorherrschende Klima im Kongress ein Gefühl der Expertise und Überlegenheit zu sein. Woher kommt dieses Empfinden? Ich suchte immer wieder den Blick zu anderen Teilnehmer*innen im Raum, die sich ebenso mehr Fundament, Begründung und Kritik des Gesagten wünschten. Doch leider schlich sich bei mir das leise Gefühl ein, eine der wenigen Skeptiker*innen zu sein.
Freund vs. Freind
Abgesehen von der Struktur der „Diskussion“ war erwartungsgemäß auch der Inhalt sehr kritisch zu betrachten. Immer wieder wurde der Fokus von Russland auf die USA gelenkt, die mindestens genauso schuldig, kriminell und verachtenswert seien. Redner*innen auf dem Kongress postulierten, die USA werde von den „Manipulierten“, die nicht wie sie selbst von der Wahrheit erleuchtet seien, als heilig angesehen. Äußerungen dieser Natur wurden unter anderem von Oskar Lafontaine getätigt. Russland werde als der Feind dargestellt, die USA als Held. Doch in solchen Schwarz-Weiß-Mustern denken ausgesprochen wenige, die sich mit Geopolitik beschäftigen.
Mit Sicherheit ist die USA kein Vorzeigeland. Jedoch ist das Ablenken von einem anderen Staat, in dem Kriegsverbrechen betrieben werden, für keine Debatte sonderlich produktiv. Zu sagen „Die eine Seite ist mindestens genauso schlimm, wie die andere“ ist so, als würde man den Kopf gleich in den Sand stecken. Doch für das Problem der Wahl zwischen zwei Übeln hatten die Expert*innen des Kongresses eine Lösung: den Austritt aus der NATO und die Gründung eines europäischen Sicherheitssystems. Damit wurde eine sogenannte „EU-Armee“ oder eine gemeinsame nicht-militärische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands, die auf Kooperation mit China zielt, gemeint. Hinter der Behauptung keine Partei zu beziehen, wird diese von den Redner*innen sehr wohl in Richtung Russlands erwünscht.
Kritische Stimmen an der HU
Vor allem am Slawistik-Institut der HU gibt es gegenüber dem Kongress kritische Stimmen. Yelizaveta Landenberger, die derzeit unter anderem Russisch an der HU studiert und als freie Journalistin und Übersetzerin arbeitet, betonte in unserem Gespräch die Notwendigkeit des Fokus auf die Forderungen der Ukraine.
Eine Anekdote, die sie mir von der Gegendemonstration zum sogenannten Friedenskongress vor dem Hauptgebäude der HU erzählte, steht symbolisch für die Verweigerung sich auf eine andere Meinung einzulassen. Demnach beschimpften die Kongressteilnehmer*innen die Demonstrant*innen. Schließlich, so Yelizaveta Landenberger, verlangen die Ukrainer*innen selbstverständlich Waffenlieferungen und haben eine große Bereitschaft, ihr Land zu verteidigen. Die Lage der Ukrainer*innen werde jedoch von vielen Menschen hierzulange ignoriert.
„Für Deutschland war und ist die NATO verhängnisvoll“
Barbara Wurm, Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich für Ostslawische Literaturen und Kulturen, ordnet Aussagen wie „Für Deutschland war und ist die NATO verhängnisvoll“, die im Flyer des Kongresses stehen, als Parolen aus dem Kalten Krieg ein. Der vorherrschende „Ethos“ sei nichts als das unkritische Beharren auf einer Haltung, die sich in der deutschen Diskurslandschaft in Unkenntnis und Ignoranz gegenüber der politischen Realität im Osten Europas herausgebildet hat – und dabei wirkt, als sei sie in den 1980er Jahren hängen geblieben.
Die Auffassung, der russische Angriff auf die Ukraine sei nichts anderes gewesen, als die Reaktion auf eine westliche Provokation, die sich in Form von Waffenaufstellungen in NATO-Ländern an der Grenze zu Russland manifestierten, spielt Putin in die Hände. Es scheint einleuchtend, dass diese Behauptung eine Verdrehung der eigentlichen kriegstreibenden Akteure ist.
Eine weitere auf dem Kongress vertretene Meinung war, dass auch die Ukraine selbst sich falsch verhalten habe. Wenn sie „verhandeln statt schießen“ würde, wäre der Krieg bald vorbei. Doch das mutet einer sehr gewagten These an. Und selbst wenn es so wäre, dass Putin nach Beendigung des von ihm als „Spezialoperation“ bezeichneten Krieges in der Ukraine kein weiteres Land angreifen würde: Kann man wirklich davon ausgehen, dass es für die Ukrainer*innen ein kleineres Übel wäre in einer Autokratie zu leben? Und noch wichtiger: Darf man als außenstehendes Land darüber entscheiden, welches Schicksal den Ukrainer*innen widerfahren soll, oder wäre es nicht plausibler ihren eigenen Forderungen nachzukommen? Barbara Wurm: „So zynisch das auch sein mag: den Tatsachen sieht man erst dann ins Auge, wenn die Bombe links und rechts von einem einprasselt. Alles andere ist Theorie. Und das ist die Situation: In Berlin gibt es nichts als Theorien.“
Auf den Protest gegen diese Veranstaltung, der von der ukrainischen Aktivist*innen-Gruppe vitsche organisiert wurde, reagierte die HU mit einer Stellungnahme, in der sich das Präsidium zwar von diesem Kongress distanziere, die Erlaubnis für die Veranstaltung allerdings nicht entschuldigt wurde. Sie hätte im Rahmen der Meinungsfreiheit stattgefunden. Doch eine Universität ist nicht dazu verpflichtet, jegliche Veranstaltungen zu genehmigen und den dort vertretenen Meinungen eine Bühne zu verschaffen. Im Gegenteil sollte doch gerade der wissenschaftliche Aspekt im Vordergrund stehen, der bei dem Kongress „Ohne NATO leben – Ideen zm Frieden“ fehlte.
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Foto: Etienne Girardet/ unsplash