Yesmin ist in Österreich geboren und trägt Hijab. Als sie und ihre Freunde ein Musikvideo in Burkas drehen, wächst aus einem anfänglichen Spaß die Frage nach Identität und toxischer Aneignung. Kurdwin Ayubs Film Sonne zeigt die schwere Zerreißprobe einer jungen Österreicherin mit Migrationshintergrund, die zwischen ihrem Traditionsbewusstsein und der scheinbaren Offenheit ihrer Freundinnen zerrieben wird.
In der Einstiegsszene ein verwackelte Handyvideo einer jungen Frau, Lachen im Hintergrund. Ihre Haare fallen ihr lang und schwarz über die Schultern, denn zuhause muss Yesmin (Melina Benli) kein Kopftuch tragen. Ihre Freundinnen Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) setzen sich in den Burkas von Yesmin Mutter in Szene. Gleich zu Beginn des Filmes merken die Zuschauer*innen, dass es hier Probleme geben könnte. Die drei drehen ein Musikvideo zu R.E.Ms Losing My Religion, dass auf YouTube schlagartig ein Interneterfolg wird und die drei Mädchen zu Stars der muslimischen Community in ihrer Heimatstadt macht.
Das Problem: Bella und Nati sind keine Muslime und haben Yesmin auch nichts von der Veröffentlichung erzählt. Empathie Fehlanzeige. Und hier beginnt der Film seine eigentliche Stärke auszuspielen. Anstatt die Geschichte einer jungen Muslimin zu erzählen, die aus den Verhältnissen ihrer Familie auszubrechen versucht, geht Ayubs Film sehr in die Tiefe. Während Bella und Nati sich auf der Bühne als muslimische Frauen labeln, teils um zu provozieren und teils aus purer Neugierde, fühlt sich Yesmin mehr und mehr nicht ernstgenommen und verstanden. Immer öfter empfindet sie den zwanglosen Imagewandel ihrer Freundinnen als kulturelle Aneignung.
Das ist keine einfache, umso komplizierte und dadurch so viel wahrere Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Muslimin, deren Option nicht allein der Widerstand gegen die elterlichen Verhältnisse ist. Während ihr Vater stolz das YouTube-Video wiederholt übers Smartphone laufen lässt, empfindet die von Krieg und Flucht traumatisierte Mutter eher Beschämung. Und so fühlt sich Yesmin von jeder Seite missverstanden. Sie verliert sowohl die Verbindung zu ihren engsten Freundinnen als auch zu ihrer Familie.
„Jeder wie er will“
Dabei scheint die Hauptstory um den Social-Media-Erfolg der drei Mädchen manchmal abhanden zu kommen. Die spontanen Einschübe aus der Instagram-Perspektive drängen sich oft so direkt und spontan ins Bild, dass die Kinobesucher*innen gezwungen sind, darin eine Form zu finden. Die kleinen Privataufnahmen der Figuren leuchten das Panorama von Teenagern aus, deren Leben neben den schulischen Erwartungen scheinbar jeden Tag aufs Neue zerbrechen. Und doch wirkt es nicht weltfremd, Achtzehnjährigen zuzusehen, wie sie auf Social-Media unverhohlen ihren gewollten Ausbruch inszenieren. Nur Yesmin kann davon nicht Teil sein, und das ist spürbar.
Als Yesmins Freundin Nati darauf angesprochen wird, warum sie im Video die Burka trägt, antwortet sie: „Jeder wie er will“. Eine starke Stelle! Denn was für Bella und Nati lediglich eine „Option“, eine für die mediale Inszenierung mögliche Entscheidung ist, spielt für Yesmin eine zentrale Rolle in ihrem Leben.
Plakativ wird es im Film Sonne nur bei Yesmins Bruder Kerim, der scheinbar zwanghaft in die Rolle des Gescheiterten gesteckt wird. Schlechte Noten, dadurch der zwanghafte Abstieg in gewalttätige Kreise innerhalb des Vorstadt-Milieus – das passt nicht ins Bild der ansonsten so ausdifferenzierten Charaktere des Films. Während Yesmins Vater und Mutter eher tiefere Charaktere sind, bleibt Kerim eine blasse, zweidimensionale Erscheinung.
Kurdwin Ayub Film Sonne kann als Geschichte kultureller Aneignung gelesen werden. Sie lässt die Zerreißprobe von Yesmin miterleben. Die anscheinend wahllos gestreuten Posts der Figuren erzählen dabei auf eine spannende Weise das meist Ungesagte, das, was eigentlich gesagt werden müsste. Es ist ein Film über toxische Freundschaften und den Mangel an Empathie. Umso erstaunlicher kommt das Ende des Films einher. Es wird keine Lösung präsentiert und gerade das leuchtet ein.
Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion
Anm. d. Chefred.: In einer früheren Version dieses Artikels wurde der Name der Regisseurin als „Ayud“ falsch geschrieben. Dieser Fehler wurde korrigiert.
Vielleicht noch den Namen der Regisseurin richtig schreiben?
Liebe Lina, vielen Dank für deinen Hinweis. Wir haben unseren Fehler korrigiert. (Chefredaktion UnAuf)
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