Schon vor der Coronavirus-Pandemie gab es nicht genügend Schlafplätze für die mehr als 2.000 Menschen, die auf Berlins Straßen leben. Doch die Plätze, die zur Verfügung stehen, werden teilweise nicht genutzt. Die in der Pandemie erforderlichen Schutzmaßnahmen schrecken die obdachlosen Menschen ab. 

Dick eingepackte Menschen laufen verstreut über den Mariannenplatz. Gelegentlich bleiben einige von ihnen kurz stehen um einen seltenen Sonnenmoment zu genießen, bis der nächste Windschub oder herannahende Menschen sie weiter treiben. Ein normaler Tag in einem unnormalen Winter. Es sind -4 Grad mitten in einer Pandemie.


Niko* sitzt auf einer zusammengefalteten Isomatte in einem der Seiteneingänge der Paulskirche. Seit einigen Wochen ist das sein Übernachtungsplatz, wenn er nichts anderes findet. Etwa einmal die Woche schläft er hier. An anderen Tagen fährt er zu einem der zwölf in Berlin verteilten Nachtcafés und hofft, einen Platz zu ergattern. 
Seit etwas über drei Jahren lebt Niko in der Obdachlosigkeit. 
Die Pandemie, sowie die aktuellen Auflagen zur Eindämmung der Infektionszahlen, haben für Niko aber auch tausend andere Obdachlose weitreichende Folgen. 
Die Nachtcafés und Notfallunterkünfte bieten, um den Mindestabstand zu ermöglichen, weniger Übernachtungsplätze an. Um einen Teil der fehlenden Plätze zu kompensieren, hat der Senat drei Hostels angemietet und in das Kältehilfe-Netz eingebunden.



Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.( BAG W) hat die Kommunen bereits vor Winterbeginn auf die besonderen Gefahren des „Corona-Winters“ aufmerksam gemacht. In der Pressemitteilung „Zwischen Kältetod und Infektionsgefahr“ fordert Werena Rosenke von der BAG W „eine deutliche Ausweitung der Kältehilfeangebote, sonst sind Abstandsgebote, Hygienemaßnahmen etc. nicht einzuhalten“.

Die Schlafplätze reichen gerade Mal für die Hälfte der Wohnungslosen aus



Berlinweit stehen laut dem jährlich erscheinenden „Wegweiser 2020/21“ der Kältehilfe etwa 1.200 Übernachtungsplätze zur Verfügung. Verglichen mit dem „Wegweiser 2019/20“ sind das knapp 500 Plätze weniger. Die tatsächlichen Kapazitäten ändern sich von Woche zu Woche. Mal muss eine Unterkunft schließen, wie im Dezember die Notübernachtung am Containerbahnhof der Berliner Stadtmission. Dort hatte es mehrerer Corona-Fälle gegeben. Mal öffnet eine neue Unterkunft, wie das vom Senat angemietete A&O Hostel in Kreuzberg.


Die letzte Pressemitteilung zu den „Aktuellen Kapazitäten in der Berliner Kältehilfe“, veröffentlicht von der Senatsverwaltung, beziffert die durchschnittliche Zahl der Notübernachtungsplätze in der 3. Kalenderwoche (18. – 24. Januar) mit 1.092. Es herrscht große Uneinigkeit über die Zahl der Wohnungslosen in Berlin, aber auch 1.200 Schlafplätze reichen, selbst nach den konservativsten Zahlen, gerade Mal für die Hälfte der Wohnungslosen aus.


Etwa 2.000 Menschen, die auf der Straße leben wurden letzten Winter, bei einer berlinweiten Zählung erfasst. Dass die tatsächlichen Zahlen darüber liegen ist unumstritten. Selbst Elke Breitenbach, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales und Auftraggeberin der Zählung, räumte ein, dass sich bestimmt Einige explizit der Zählung entzogen haben. Hilfsorganisationen gehen von mindestens doppelt so vielen aus und Schätzungen der Vorjahre kamen regelmäßig auf Zahlen zwischen 6.000 und 10.000.
 Dennoch blieben in der 3. Kalenderwoche, ähnlich wie in den Wochen davor, im Schnitt gut 100 Schlafplätze unbelegt.


„Die Schutzauflagen schrecken einige davor ab, das Hilfeangebot anzunehmen“

Sabine Bösing vom Fachreferat Gesundheit und Frauen der BAG W wird immer wieder zurückgemeldet, dass Schnelltests und Kontaktformulare dazu führen, dass einige Obdachlose die Unterkünfte meiden. „So notwendig die Schutzauflagen auch sind, sie schrecken einige davor ab, das Hilfeangebot anzunehmen“ sagt Frau Bösing. „Viele der niedrigschwelligen Angebote wie Tagesaufenthalte und Unterkünfte sind Orte des Vertrauens. Die Menschen werden angenommen wie sie sind. Wenn dann aber bestimmte Hürden zu nehmen sind, um Einlass zu bekommen, dann nährt das auch Misstrauen“, führt Bösing weiter aus. 

Andere haben wiederum Angst sich anzustecken. Viele fürchten außerdem festgehalten zu werden, sollte ihr eigener oder der Schnelltest einer der anderen Gäste positiv ausfallen. 
Diesen Winter gibt es mehr Obdachlose die die Straße von sich aus vorziehen, meint auch Niko. 
Auch er sieht seinen Namen nicht gerne auf einem der verpflichtenden Kontaktformulare. Aber in seinem Alter hält er die Kälte nicht mehr so gut aus, wie er erklärt. In die Situation einen Schnelltest machen zu müssen, kommt er ohnehin nur selten.

Bereits 22 Kältetote in diesem Winter

Von den gut 40 Nachtcafés und Notunterkünften sind es etwa 15 die regelmäßig Schnelltests durchführen, laut Anna Lederle von sozial.berlin. Dabei gibt es genügend Test-Kits, aber Ehrenamtliche fehlen. Zwar dürfen mittlerweile nicht mehr nur Ärzt*innen und Pfleger*innen testen, sondern auch Ehrenamtliche, die eine entsprechende Schulung absolviert haben, dennoch sind Menschen die diesen Winter in den Unterkünften helfen Mangelware. Der Bedarf ist durch die zusätzlichen Aufgaben, wie Schnelltests durchführen, Temperatur messen etc. diesen Winter erheblich höher als in den Vorjahren.


“Es ist natürlich nicht einfach für die Menschen vor Ort“, gibt Bösing zu bedenken. Besonders wenn Menschen an der Tür abgewiesen werden müssen, weil die Unterkunft voll ist und es draußen unter null Grad sind. 
Diesen Winter sind bereits 22 Obdachlose in Deutschland auf der Straße erfroren. Da es keine offiziellen Statistiken hierzu gibt, sammelt die BAG W jedes Jahr die Presseberichte über Kältetote und veröffentlicht die Zahlen. Ob das an vollen und überlasteten Einrichtungen liegt oder an der abschreckenden Wirkung der Auflagen ist unklar.


Klar ist, dass es viele sind. Letzten Winter gab es insgesamt drei Kältetote. 
In ein paar Stunden muss auch Niko wieder los, um einen Platz in einem der Nachtcafés zu bekommen. Er kann nicht nachvollziehen, warum so viele Hotels und andere Gebäude in Berlin leer stehen, während er und viele andere jede Nacht um einen Schlafplatz anstehen müssen. 
Schließlich könnten mehr Unterkünfte und insgesamt mehr Platz die angespannte Situation der Berliner Kältehilfe entzerren. Die Gefahr sich in einer der Unterkünfte anzustecken würde sich verringern und möglicherweise könnte auch über einzelne selbstorganisierte Unterkünfte ohne strikten Einlass diskutiert werden.


Bevor Niko seine Sachen zusammen packt und sich auf den Weg macht, möchte er noch einen Aufruf loswerden „Ihr da draußen, wenn ihr Leerstand seht, in den ihr leicht reinkommt. Geht rein, macht es euch gemütlich!““

*Name von der Redaktion geändert

Anm. der Redaktion: Die Zahl der gemeldeten Kältetoten nach Angaben der BAG W wurde nachträglich aktualisiert. Zunächst hieß es, die BAG W melde zwischen acht und elf Fälle, tatsächlich liegt die Zahl der Kältetoten dem Verein zufolge aktuell bei 22.