Am 24. April begehen alljährlich weltweit Menschen den Tag des Gedenkens an den Völkermord von 1915 an den Armeniern im damaligen Osmanischen Reich. In Deutschland geschieht dies nahezu unbemerkt vom Großteil der Bevölkerung. In Armenien selbst und den USA, Frankreich oder Russland, wo aufgrund des Genozids und früherer Pogrome viele Armenier leben, ist dieser Tag und die Nacht zuvor nicht denkbar ohne den Ruf nach “Anerkennung”, ohne lange Trauerzüge, das Meer weißer Blumen und Kerzen. Die Ereignisse um die weitgehende Tilgung armenischen Lebens und Kultur vom Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches liegen nunmehr 99 Jahre zurück. Was hat das mit uns zu tun, die wir hier und heute leben?

Wie auch und besonders die Deutschen erfahren mussten, ist eine alte furchtbare Schuld nicht leicht abzuschütteln und verjährt auch nicht. Mehr noch lastet sie auf den Nachfahren der Täter, wenn Vergehen und Verbrechen an der Menschlichkeit nie zugegeben, nie offen benannt worden sind und bis heute nicht besprochen sein dürfen. Dies trifft auf den Nachfolgestaat des osmanischen Reiches, die Republik Türkei, zu, in der jedwede öffentliche Beschäftigung, jedes Bekenntnis, oder nur Benennen der Untat als „Beleidigung des Türkentums“ sogar strafrechtlich verfolgt werden können und gesellschaftlich geahndet werden. Wie man sich einem hundertjährigen Erbe offen stellen kann, zeigt Erdal Sahin mit seinem Buch “Transformation zum Täter von 1915”. Ein Buch für alle, die die Frage von historischer Schuld interessiert, wissenschaftlich oder auch persönlich umtreibt. Sahins Herangehensweise ist gleichwohl weniger wissenschaftlich als persönlich, autobiographisch und gerade deshalb ansprechend. Der provokante Titel des kleinen aber schwerwiegenden Bandes meint das Sich-Solidarisieren mit den Opfern. Dabei verwendet Sahin den Begriff der Täterschaft nicht im juristischen Sinn, sondern sieht ihn historisch. Beteiligung am Verbrechen meint hier bereits die Nicht-Distanzierung von den Tätern, das Verschweigen, das Nicht-Nennen, Nicht-Benennen, Nicht-Bekennen der Tat.

Sahin versteht sein vor dem Hintergrund der gegenwärtigen rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mutiges Schreiben jedoch nicht als Beleidigung gegenüber der heutigen Türkei, Türken oder ihrer Vorfahren. Es geht im Gegenteil um ein aufrichtiges Bekenntnis zur Menschlichkeit. Sein Buch beschreibt kurz und prägnant, sehr eindrücklich und unter die Haut gehend, wie innerhalb und außerhalb der Türkei Generationen von Türken und türkischstämmigen Menschen wie er gerade zum Verdrängen und Wegsehen erzogen worden sind. Und trotzdem breche an vielen Stellen eine unbewusste Erinnerung an die traurige Vergangenheit, an die verschwiegenen Geschichten und ihre Folgen immer wieder auf und verursache den Nachfahren beider Seiten Leiden. Sahin fordert auf, Mythen und Ikonen zu hinterfragen und proklamiert: „Ich tituliere mich als Täter, solange der Genozid nicht offiziell anerkannt wurde“. Mit einer Einstellung à la „Die Vorfahren sind’s gewesen- lang ist’s her, wenn es überhaupt stimmt…“ mache man es sich nur vermeintlich leicht. Fehlende Sensibilisierung sei es, die wirklich belastend auf die gegenwärtige Generation der “Kinder Atatürks” wirke.

Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist zwar beschwerlich, aber angeraten. Sie bleibt der einzige Weg, diese historische Bürde zu mindern und mit ihr konstruktiv umzugehen. Das deutsche Kaiserreich und etliche seiner Bürger und Beamten waren unmittelbare Zeugen der Ereignisse von 1915. Deswegen und aufgrund seiner ganz eigenen Erfahrungen mit Schuld und Sühne, geht uns, hier und heute, alle die Frage um das Anerkennen des Leids der Opfer sowie der Schuld und Mitschuld von Tätern und Zuschauern von 1915 an – wenn wir miteinander und mit uns selbst versöhnt sein wollen.

 

“Transformation zum Täter von 1915”

Erdal Sahin

Edition Winterwork, 2013

96 Seiten

Preis: 6,90 EUR