Die Universitäten sind seit über einem Jahr geschlossen. Die Initiative #NichtNurOnline, die aus Studierenden sowie Lehrenden verschiedener Berliner Universitäten besteht, wünscht sich eine Öffnungsperspektive und veranstaltet eine Protestaktion. Dabei wird allerdings viel auf hohem Niveau gejammert, kritisiert unsere Autorin.
„Die Gesellschaft kann die Auswirkung des Lockdowns auf die psychische Gesundheit der Studierenden nicht mehr vertreten“, so wird eine Professorin für Psychologie an der FHM in der UnAuf zitiert. Sie hat an der Aktion von #NichtNurOnline teilgenommen. In eine ähnliche Richtung bewegt sich Roberto Lo Presti, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität, in einem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung: Die ganze Gesellschaft sei „dazu verpflichtet (…), an einer verantwortungsvollen und gleichzeitig realistischen Öffnungsstrategie für die Hochschulen zu arbeiten“.
Die Gesellschaft also – dieselbe Gesellschaft, in der es bisher mehr als 70.000 Corona-Tote und noch mehr Menschen in Trauer um ihre Verstorbenen gibt, Tendenz steigend. Dieselbe Gesellschaft, die sich nicht für die vielen Geflüchteten in Moria oder die durch Hanau verunsicherten Menschen mit Migrationsvordergrund in ihrer Mitte verantwortlich fühlt. Oder dieselbe Gesellschaft, in der die bereits verheerende Bildungslücke durch die Coronavirus-Pandemie noch verstärkt wurde. In dieser Gesellschaft sollen sich laut den zitierten Mitarbeitenden jetzt mal alle für die Menschen einsetzen, die die höchste Bildung genießen, weil diesen der soziale Kontakt fehlt.
Währenddessen haben Auszubildende Schwierigkeiten, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden. Viele Ausbildungsbetriebe können die bereits bei ihnen angestellten Azubis kaum halten. Denn in den meisten Ausbildungsberufen ist der Umstieg in den digitalen Raum keine Option. Man könnte meinen, dass die Perspektiven für Menschen ohne Abitur damit düsterer aussehen als für Studierende.
Natürlich sollen Rahmenbedingungen für den Wiedereinstieg in die Präsenzlehre gefordert werden
Doch Lo Presti ist überzeugt, Studierende würden durch die aktuellen Umstände an „ihrer freien Entfaltung gehindert“. Offenbar ist ihm kurz entfallen, dass diese die Möglichkeit hatten, sich einen Studiengang auszusuchen und jetzt ein zwar eingeschränktes, aber dennoch vorhandenes Bildungsangebot genießen.
Natürlich hat die Initiative auch vernünftige Forderungen. Die größte ist, dass sie wenigstens Rahmenbedingungen für den Wiedereinstieg in die Präsenzlehre von der Politik bekommen möchten. Das ist nachvollziehbar. Die Darstellung durch die Teilnehmer*innen vermittelt jedoch wieder einmal das Bild eines akademischen Betriebs, der trotz aller Privilegien im Vergleich zu vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen gerne mal die Opferrolle einnimmt.
In der taz wird eine Philosophiestudentin sogar folgendermaßen zitiert: „Das fühlt sich an, als würden wir gar nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen.“ Währenddessen sinniert ein anderer Student, ebenfalls Philosoph, darüber dass beim Verbleib in der Online-Lehre das Rentensystem zusammenbrechen könnte: „Wir müssen irgendwann die Rente von Leuten bezahlen, aber wie wir dahin kommen ist erstmal egal.”
Wirklich unpraktisch, dass die Studierenden der Pfeiler sind, der eben jenes Sozialsystem aufrechterhält. Obwohl die meisten Studierenden zumindest während ihrer akademischen Laufbahn durch Werkstudierenden- und Minijobs gar nicht in die Rentenkasse einzahlen. Gäbe es doch andere Berufsgruppen mit nicht-akademischem Hintergrund, die die Rente sichern könnte… Moment – könnten das nicht diese systemrelevanten Arbeitskräfte sein, die Reinigungskräfte, Kassierer*innen und Pflegenden dieses Landes, die während der Pandemie teilweise ihr Leben riskiert haben, ohne dafür annähernd angemessen vergütet zu werden?
Vokalisiert Solidarität mit Nicht-Akademiker*innen
Aber den Studierenden fehlt halt der Austausch. Ebenfalls ein Faktor, der von der Initiative besonders für sie hervorgehoben wird, allerdings alle Mitglieder der Gesellschaft betrifft. Ebenso die psychischen Folgen: Laut dem aktuellen Psychoreport der DAK befinden sich die Fehlzeiten wegen seelischer Störungen im Corona-Jahr 2020 auf dem Höchststand des vergangenen Jahrzehnts. Das erklärt auch, warum viele Gruppen aktuell versuchen, sich als besonders vernachlässigt zu positionieren und auf die Öffnung ihres Bereichs drängen.
Wenn Studierende von Öffentlichkeit und Politik in ihren Belangen ernstgenommen werden möchten, müssen sie auch zeigen, dass sie ein Verständnis für die verzwickte Gesamtproblemlage haben. Einige der Äußerungen im Rahmen der Protestaktion werden auf Menschen außerhalb des universitären Betriebs wohl eher befremdlich wirken.
Wie wäre es denn statt der Inszenierung als Opfer der Gesellschaft mit einer Forderung nach dem Ausbau der psychologischen Angebote mit einem niedrigschwelligen Zugang? Und nach einer unbürokratischen finanziellen Unterstützung? Oder, eine ganz radikale Idee: Es wäre doch mal was, bei einer Protestaktion wie der von #NichtNurOnline Solidarität mit Nicht-Akademiker*innen zu vokalisieren und die eigenen Forderungen mit denen anderer Gruppen zu verbinden. Um zu zeigen, dass man über den eigenen Tellerrand hinausschaut. Beispielsweise könnte man darauf verweisen, dass vielen Studierenden, die auf Minijobs in Gastronomie und Einzelhandel angewiesen sind, die Grundlage weggebrochen ist und dringend Unterstützung benötigt wird – die auch auf Nicht-Studierende, die ihren Minijob durch die Pandemie verloren haben und kein Bildungsangebot wahrnehmen können, ausgeweitet werden sollte.
Dem oder der ein oder anderen Leser*in wird beim Lesen sicher der Vorwurf des Whataboutisms durch den Kopf gegangen sein. In einer auf Privilegien basierenden Gesellschaft kann man jedoch die Forderungen, die eine Gruppe stellt, nicht von der Situation trennen, in der sich andere Gruppen befinden. Wenn Akademiker*innen sich allen Ernstes hinstellen und proklamieren, sie würden von der Gesellschaft vergessen und an ihrer freien Entfaltung gehindert, kann man sich fragen, ob drei Semester Online-Lehre und Lockdown am Ende tatsächlich eine negative Auswirkung auf ihre Denkleistung bewirkt haben. Vielleicht sollten doch möglichst bald wieder Präsenzveranstaltungen angeboten werden. Dann würde man vielleicht erkennen, dass hier viel auf hohem Niveau gejammert wird.
[…] Es gibt Stimmen, die meinen, ihr verharmlost durch eure Aktion die Auswirkungen der […]
Lange nicht einen so unreflektierten Artikel gelesen, der sich mit der Lage einer Bevölkerungsgruppe befasst. Ebenso könnte man fragen, wie man ernsthaft über die Lage von SchülerInnen in der Pandemie in Deutschland reden kann, wenn in Afrika Kinder vor Hunger sterben.
Mittlerweile ist auf der Webseite eine Gegendarstellung von Roberto Lo Presti erschienen, der Teil der Initiative ist. Vielleicht willst du dir den ma anschauen. Dieser Beitrag ist ein Kommentar, der nicht zwingend die Meinung der Redaktion widerspiegelt.
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