Thessaloniki ist nicht London, Madrid oder Paris. Thessaloniki ist eine Metropole auf dem Balkan. Die Griechen halten sie für die heimliche Hauptstadt ihres Landes. Das Nachtleben sei legendär und trotz Corona-Einschränkungen hält man daran fest. Auf dem Olymp, so sagt man, hausen die Götter. Direkt gegenüber gastieren Studierende aus aller Welt und feiern die „europäische Erfahrung“. Braucht es mehr Gründe für Erasmus?
Ehrlich gesagt kann ich mich an meine Zeit vor dem Lockdown kaum erinnern. Das liegt wahrscheinlich daran, weil in Thessaloniki bereits seit Anfang November alle Lichter aus sind – oder zumindest gedimmt. Auslandsstudium und Lockdown vertragen sich trotzdem ziemlich gut. Ich gestehe mir einfach ein, nichts machen zu müssen. Ich kann genauso faul sein, wie ich es in Deutschland war. Der Mythos verlangt jedoch, dass man ausgerechnet im Erasmus-Semester besonders schwer unter den Folgen des Lockdowns zu leiden hat. Es sei schade, sagen viele. Man erlebt schließlich nichts mehr. Und irgendwie stimmt es auch. Aber im Prinzip erlebt gerade weder hier noch anderswo irgendjemand etwas. Das allzu eitle Spiel um die schönste Erasmuserfahrung ist also erstmal überall auf Eis gelegt. Das beruhigt.
Außerdem waren mir die Ideen für diese Kolumne ausgegangen, daher kommt mir der Lockdown sehr gelegen. Frage: Bin ich unfrei und eingesperrt im fremden Land? Das klingt zumindest besser als ein schlichtes Nö. Das Einzige, was wirklich auf die Nerven geht, ist die Ausgangssperre zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh. Normalerweise war das genau die Zeit, in der ich außer Haus war. Irgendwann habe ich aufgehört, mich zu freuen, grundlos faul zu sein. Damit kam die Trägheit, und mit ihr ein bis zwei Minuten am Tag, die nicht zum mediterranen Sonnenschein passten. Bis zum ersten Advent strahlte jeden Tag die Sonne, wenn auch verkürzt. Es war warm, die dünne Jacke reichte. Die immergrünen Bäume, trugen bis vor kurzem die Blüten eines zweiten Frühlings. Ich hörte Vögel singen und verlor jedes Gefühl für das Dahinscheiden dieses pandemischen Jahres.
Das Haus kann man nur mit einer Genehmigung verlassen. Entweder schreibt man eine SMS an eine bestimmte Nummer oder man stellt sich selbst einen Passierschein aus. Das heißt, man schreibt sich selbst frei. Was man auch wählt, folgende Daten dürfen nicht fehlen: Adresse, Name, Uhrzeit und ein Grund für den Ausgang. Und damit das auch alles legal ist, unterschreibt man seinen Wisch. In der Regel sind sportliche Aktivitäten und Einkäufe erlaubt. Wichtige Besorgungen in der Apotheke gelten auch. Seitdem habe ich immer ein Fieberthermometer in meiner Bauchtasche, falls ich doch mal kontrolliert werden sollte. Das Haus darf man nur mit Maske verlassen. Am Anfang zahlte man noch 150 Euro, wenn man erwischt wurde. Jetzt sind es 300 Euro. Für mich kein Problem, denn Masken trage ich mit mir wie damals Feuerzeuge. Durch Sport befreie ich mich. Nicht weit von meiner Wohnung ist die kilometerlange Promenade von Thessaloniki, direkt am Wasser, gesäumt von Pinien und Palmen. In der Bucht warten die Containerschiffe mit gebotenem Abstand in langer Reihe auf die Einfahrt in den Hafen. Die Wirtschaft muss irgendwie laufen, gerade in Griechenland. Und ich laufe falls möglich auf der Promenade bis zum Konzerthaus, vor dem ein Kanonenboot liegt. Das ist jetzt ein Museum und wird nachts ganz schön ausgeleuchtet.
Naja, und an der Promenade begegnet man immer häufiger der Polizei. Die Beamt*innen Thessalonikis sind zumeist auf dem Motorrad unterwegs. Jeweils zwei sitzen dann auf dem Sozius und straucheln zwischen den Passant*innen entlang. Sie schauen, ob auch jeder seine Maske trägt. Nur wer Sport macht, muss keine auf offener Straße tragen. Gerade sind alle furchtbar sportlich. Nicht selten laufe ich in voller Sportmontur neben anderen Studierenden und trinke meinen eiskalten Frappé, der hier so zum Straßenbild gehört wie in Berlin der Flat White mit Sojamilch. Wenn man Leute treffen will, verabredete man sich zum Sport und sitzt am Wasser, die Maske immer in der Hand, falls die Polizei vorbeifährt.
Ansonsten ist der Lockdown nicht weiter wild. Für mich ist jeden Tag Schnitzeltag. Freitags suche ich gerne die Mensa auf. Dafür schreib ich auf meinen Passierschein die Nummer 2 für „wichtige Besorgungen“, weil man sich das Mensaessen nicht in die Wohnung liefern kann. Bis vor kurzem dachte ich, dass es freitags immer Moussaka gibt. An einem dieser Freitage (jeden Tag ist Freitag…) servierten sie Tintenfisch mit Reis, eine schöne Abwechslung. Und sonst so? Wenn ich nicht Pizza bestelle, esse ich den Burger von Γιόκ Μπαλίκ (Gior Balik) keine zwei Straßen weiter. Burger griechischer Art. Die Pommes mit Tsatsiki und zwischen dem Brötchen einen Berg Gyros. Ansonsten empfehle ich Pizza Fan und Roma Pizza, die garantiert immer frische Tomaten verwerten. Die Burger von Brother in Law sind ganz okay.
Wenn die Sperrstunde einsetzt, braucht man keine Zettelchen mehr. Wenn man das Haus dann verlässt, dann meistens, um in dieser Stadt voller loser Bekanntschaften in Verbindung zu bleiben. Auf ein kurzes „How are you?“ via Whatsapp folgt die zufällige Begegnung auf der Straße. Auf welchen Straßen die Polizei nachts patrouilliert, kann man nie wirklich wissen. Die Agiou Dimitriou, Egnatia und Timiski zu meiden, sollte jeder wissen. Nachts sind diese Straßen immer leer – und leicht einzusehen. Nur selten sah ich Menschen in Hauseingängen stehen. Sie lauschten, ob sie ungesehen über die nächste Kreuzung gehen konnten. Wo man auch hinschaut, ein strenger Lockdown reizt nicht selten die Fantasie jener Menschen an, die ihn aushalten müssen.