Es ist einer der ultimativen Träume eines jeden Wagnerianers, ja eines jeden Opernliebhabers: den gesamten ,,Ring des Nibelungen‘‘ an einem Stück zu sehen. Doch was heißt hier ,,am Stück?‘‘. Es handelt sich bei diesem Werk immerhin um einen Zyklus von ganzen vier Opern, der sich in drei Abende und einen Vorabend untergliedert und sich zusammen auf fast 16 Stunden (ohne Pausen) erstreckt.

Das Spektakel beginnt an einem Dienstag im November mit der ersten Oper, dem ,,Rheingold‘‘. Man steigt hier ganz gemütlich ein, die Aufführung dauert ,,nur‘‘ 2 ½ Stunden und es gibt keine Pause. Dem Berliner Publikum war die Inszenierung schon bekannt, sie feierte im Sommer ihre Premiere und auch die UnAuf hat darüber berichtet. Trotzdem wird nun immer wieder deutlich, dass auch an diesem ersten Teil in den letzten Monaten noch geschraubt wurde. Und wenngleich das Rheingold im weltweiten Vergleich als eher unbeliebte Oper gilt, war der erste Abend der eigentliche Höhepunkt des Herheim-Rings an der Deutschen Oper.

Dabei werden schon an diesem ersten Abend die inszenatorischen Pflöcke eingeschlagen: bei Stefan Herheim kommt alles aus dem Flügel. Außerdem spielen Koffer offenbar eine wichtige Rolle und eine Gruppe Statisten, die ein wenig wie Geflüchtete aussehen, tragen alle paar Akte schweigend Koffer über die Bühne. Um besondere Effekte zu erarbeiten, nutzt Herheim große Stoffbahnen, die über-, runter-, hin- und hergezogen werden und zuletzt gibt es immer wieder Szenen, die von Doppeldeutigkeit und Promiskuität nur so strotzen. Damit ist dann auch schon fast alles gesagt und so bleibt vom Rheingold eigentlich nur in Erinnerung, dass Zwergenkönig Alberich hier als Schwerenöter der Nation auftritt und zum Text ,,Garstig glatter, glitschriger Glimmer! Wie gleit ich aus!‘‘ den Rheintöchtern frech in den Schritt fast.

Später an diesem Abend kommt Alberich auch noch als Pseudo-Hitler daher, was passt, weil er mit Hilfe des Rings zur Weltherrschaft gelangen will und hier das Zwergenvolk der Nibelungen in Wehrmachtsmänteln befehligt, ja sogar in bester Jonathan-Meese-Manier mit halben Hitlergruß aufmarschiert, dabei aber alles in allem auf ganz eigentümliche Weise unpassend und inkonsequent wirkt. Dass die Gruppe Kofferträger zwischendurch sogar in KZ-Häftlingskleidung auftritt kann nur auf Unverständnis stoßen und man fragt: was wollen uns diese Kofferträger sagen? Wie passt diese Gruppe überhaupt in die Oper? Suggerierte man hier den Versuch politisch zu inszenieren, kann man diesen eigentlich nur als krampfhaft und viel zu gewollt bezeichnen. Regisseur Stefan Herheim hätte sich auf das konzentrieren sollen, was ihm offenbar wirklich zu eigen ist: schön gemacht ist nämlich allein das Ende des ,,Rheingold‘‘, als die erwähnten Stoffbahnen zu einem großen Rund zusammengezogen worden, worauf zuerst eine Baumkrone (Weltesche) und danach eine Gebärmutter mit einem Zwillingspaar (Siegmund und Sieglinde) gestrahlt wird. Ein kleiner Vorgeschmack auf ,,Die Walküre‘‘ also.

Positiv anzumerken bleibt, dass man sich aufseiten der Oper dazu entschlossen hat, den Text der Sänger zu übertiteln und dies sogar zweisprachig, auf Englisch und auf Deutsch. So wird dem geneigten Zuschauer die Handlung ganz klar und deutlich – ein Glück bei der immer wieder verwirrenden Inszenierung, die oft mehr ein orientierungsloses Gehampel ist, als dass sie zum Text passte. Wer nun ganz besonders aufpasste, konnte ohne Zweifel die gesellschaftskritischen Aspekte Wagners nachvollziehen – immerhin hatte Wagner den ,,Ring‘‘ in Bezug auf die Handlung schon während seiner Jahre als Vormärz-Revolutionär durchkonzipiert. Der ganze ,,Ring‘‘ basiert so auf dem Urfrevel, den Göttervater Wotan an der Natur begangen hat, indem er seinen Gesetzesspeer aus einem Ast der Weltesche schnitzte. Die Aktualität ist in Zeiten von Klimakrise und darbender Ökosysteme also schlichtweg augenfällig. Dass Herheim im Programmheft Sartre und Camus zitiert, entlarvt ihn nicht nur als Rollkragenpulliträger sondern zeigt vielmehr den Mut, die Philosophie Wagners auf eine existenzialistisch-revolutionäre Ebene zu heben. In der Theorie hat der Regisseur den Komponisten also verstanden.

Ob das für ein Regiekonzept reicht, ist höchst fraglich

Leider lässt sich das für die Praxis nicht unbedingt sagen. Der zweite Abend, die Walküre nämlich glänzte schon weitaus weniger und wo man am ersten Abend noch begeistert von den Symboliken rund um Koffer und Flügel war, wirkte das Bühnenbild am zweiten Abend schon fast klamaukig und einfallslos. Hier bestand nun die zerklüftete Bühnenlandschaft, auf der das Schicksal der Walküre Brünnhilde verhandelt wird in Gänze aus Koffern und der Beginn der Oper wurde durch das Anschlagen des Flügels markiert. Dabei war diese Symbolik, die da so einfallslos ewig gleich penetriert wurde, durchaus gut gemeint.

Ring der Nibelungen
Nina Stemme in DIE WALKÜRE, Regie: Stefan Herheim, Premiere: 27.9.2020, copyright: Bernd Uhlig.

Herheim möchte anhand des Flügels zeigen, dass alles ,,aus der Musik selbst‘‘ entsteht und erinnert daran, dass es ein Flügel war, auf dem die grandiose Musik des ,,Ring‘‘ zum ersten Male zum Klingen kam. Was die Koffer betrifft, wird immer wieder auf Wagners Leben auf der Flucht und das Dasein des Gesetzesbrechers Wotan als ,,Pilgerer durch die Zeit‘‘ rekurriert. Aber ob das für ein Regiekonzept reicht, ist höchst fraglich. Dazu addiert Herheim historisch anmutende Verkleidungen der Götter, die Flügelhelme und lange Mäntel tragen. Man ist sich hierbei nicht sicher, ob es sich um eine ernsthafte Kontrastierung zwischen historischen Kostümen und modernem Bühnenbild handelt, oder ob all jene karikiert werden, die eine ,,traditionellere‘‘ Inszenierung fordern.

Des Spektakels Tiefpunkt ist der Abend des ,,Siegfried‘‘, der dritten Oper im ,,Ring‘‘, die zugleich auch als Premiere stattfand. Betrachtet man sich hier die Handlung, wird schnell deutlich, dass es sich um eine Initiationsgeschichte im klassischen Sinne handelt und ,,Siegfried‘‘ also nichts mehr ist, als eine Art hochdramatischer Bildungsroman. Herheim spielt in seiner Inszenierung wieder mit der Musik als Ursprungsquelle der Oper. In der Hütte des Mime hängen Blechblasinstrumente unter der Decke, die Zähne im Maule des Drachen Fafners sind Tubatrichter und Dreh- und Angelpunkt ist der hinauf- und hinabfahrende Flügel in der Mitte der Bühne. Auch hier setzt sich ein Trend fort, der bereits an den vorherigen Abenden abzusehen war.

Die Inszenierung schwächelt, das Spiel mit den riesigen Tuchbahnen begeistert und die Sänger sowie das Orchester brillieren. Und wenngleich der rundbäuchige Clay Hilley als Siegfried das Erwachsenwerden des Titelhelden und die Vielschichtigkeit seines langsam wachsenden Charakters differenziert zum Ausdruck brachte und obwohl auch Jordan Shanahan als Alberich beste Arbeit leistete, musste die ganze Sangeskraft der großen Stimmen des Abends doch vor der kleinsten Rolle zurücktreten. Frenetisch gefeiert wurde Sebastian Scherer, der den Waldvogel intonierte, der Siegfried nach dem Kampf mit dem Drachen Fafner zum Felsen der Walküre Brünnhilde führt. Dieser höchstens 1,50 Meter große Goldjunge intonierte so rein und schön, dass das Berliner Publikum schlichtweg hingerissen sein musste. Er war der größte Star des Siegfried-Abends.

Das Opernfoyer als Ort der Intrige und der Mauschelei

Auch die ,,Götterdämmerung‘‘ konnte die tiefe Kerbe der vorherigen Abende nicht mehr ganz auswetzen. Ja, in Teilen fühlt sich das Publikum fast beleidigt, wenigstens verstimmt, wo für die Darstellung der Halle der Gibichungen (ein ganz schrecklich charakterschwaches Völkchen) in Herheims Inszenierung das Rangfoyer der Deutschen Oper hinhalten muss. Die Gibichungen prosten sich mit dem obligatorischen Sektchen zu, ja vertilgen gar im großen Stil Lachsschnittchen und Brezeln. Der brav-bürgerliche Opernbesucher, ein Verschwörer, der den jungen Siegfried auf dem Gewissen hat? Das Opernfoyer als Ort der Intrige und der Mauschelei? Jeder, der schonmal im Opernfoyer hinter vorgehaltener Hand gelästert und gespottet hat fühlt sich ertappt.

Hier hat Herheim einen feinen Ton gefunden, endlich springt der ironische Funken über und gegen Ende des Zyklusses gelingen ihm am letzten Abend noch eine ganze Reihe von ausdrucksstarken Momenten, nicht zuletzt, weil (bis auf das Vorspiel) nun die Koffer und die allgemeine Klamaukigkeit deutlich zurückgefahren wird. Da ist etwa der 1. Aufzug, indem Gunther mithilfe Siegfrieds die Walküre Brünhilde erstreitet und sie nun heiraten darf. Brünhilde aber liebt Siegfried, dieser erinnert sich aufgrund eines Zaubertrankes nicht mehr an Brünhilde und erstere ist folglich nicht begeistert von der anstehenden Hochzeit mit Gunther. Man fühlt sich erinnert an den lateinischen Ausspruch ,,in matrimonium ducere‘‘ (dt.: In die Ehe führen), denn Brünhilde wird wie ein erjagtes Wildbret auf einer langen Tuchbahn in die Bühnenmitte gezogen. Das macht Eindruck und bildet die Dramatik dieses Moments in treffsicherer Weise ab.

Der ,,Ring‘‘ endet mit dem Feuer, das die Halle der Gibichungen verschlingt, der Rhein tritt über die Ufer, das Rheingold wird von den Rheintöchtern zurück erbeutet. Wie diese Apokalypse ihren Lauf nimmt und das Orchester das passende inferno-artig peitschende Finale intoniert, fahren langsam alle Beleuchtungen zurück, die Traversen werden von der Decke gesenkt und man sieht die leere Bühne in ihrer kargen Nacktheit. Als dann eine Putzfrau in der ikonischen Kittelschürze über die Bühne fegt, wird einem jeden Opernbesucher vor Augen geführt, dass die letzten vier Abende nicht mehr und nicht weniger waren als Theater, als Schau, als Bühne. Das ist doch klar, will man meinen – nicht für die vielen fanatischen Wagnerianer, die Herheim hier an vier Abenden provoziert, persifliert und erregt hat.

Eines der Wagner-Orchester schlechthin

Und doch: als am vierten Abend der Vorhang fällt und alle Beteiligten den gebührenden Applaus empfangen, lässt sich das Leistungsbild dieses ,,Rings‘‘ ganz trefflich an den Wogen des Applauses abmessen. Sänger und Orchester werden gefeiert und Nina Stemme

Ring der Nibelungen
Clay Hilley in SIEGFRIED, Regie: Stefan Herheim, Premiere: 12. November 2021, copyright: Bernd Uhlig.

(Brünnhilde) sowie Clay Hilley (Siegfried) müssen immer wieder nach vorne treten, Regisseur Herheim jedoch wird nach Leibeskräften ausgebuht. Auch einige Bravo-Rufe können über das Urteil des Berliner Publikums nicht hinwegtäuschen. Herheims Inszenierung hat nicht gefunkt und der Luftsprung, den der gescholtene Regisseur dann noch im Rahmen der Verbeugungen aufführt, ist seine einzige Hochleistung an diesem Abend. Vielleicht sollte er besser Kunstturner werden.

Bei alledem war das Orchester unter der Ägide von Sir Donald Runicles der eigentliche Star der vier Abende. Überall dort, wo die Inszenierung schwer auszuhalten war, besserte das Orchester mit seinem satten und disziplinierten Klang aus und das flüssige Dirigat von Runnicles machte den Sängerinnen und Sängern ihre Arbeit leicht. Runnicles hat sich die Stimmen der Kritik zu Herzen genommen und insbesondere beim Rheingold die Horn-Partien sowie die Schwächen im Schlagwerk ausgebessert hatte. Die Ambossschläge, die zur Fahrt nach Nibelheim ertönten, waren nun zwar immer noch nicht so deutlich und intensiv wie gewünscht, aber davon abgesehen brillierte das Orchester. Egal, ob bei Siegfrieds Rheinfahrt oder beim Walkürenritt – dem Orchester gelang das Spinnen eines einzigartigen Netzes aus den mannigfaltigen Motiven der Wagner’schen Kompositionstechnik und der viel beschriebene ,,Beziehungszauber‘‘ des Komponisten wurde auf beste Weise vorgebracht. Also: eine souveräne Leistung, die das Orchester der Deutschen Oper einmal mehr als eines der Wagner-Orchester schlechthin qualifiziert und die Bedeutung Berlins als ,,zweites Bayreuth‘‘ einmal mehr unterstreicht. Kein Wunder, dass das Bayreuther Festspielorchestern zu großen Teilen aus Spielern des Berliner Orchesters besteht.

Wer tut sich das schon an?

Blickt man an diesen denkwürdigen vier Abenden auf das Publikum sieht man auf Parkett und Rang fast nur Herrschaften über 60. Unter dieser Altersgrenze bewegen sich einzig einige versprengten Regie-Studenten sowie eine nicht allzu kleinen Menge an höheren Töchtern, die man an ihren goldenen Glitzerkleidchen oder einem vorzugsweise grünen Samtjäckchen erkennt und die allesamt in Begleitung der Tante oder der Großmutter vor Ort sind. Grund für dieses Eldorado der Über-60-Jährigen ist insbesondere, dass die Karten für den ,,Ring‘‘ anfangs nur im Gesamtpaket (beginnend bei 200 €) zu haben waren und Ermäßigungsangebote wie die ,,Classic-Card‘‘ für die vier Abende einfach gesperrt wurden. Schließlich darf man nicht vergessen, dass einiges an Fanatismus dazu gehört ganze vier Abende in der Oper zu verbringen, wovon der Abend der Götterdämmerung bereits um 16 Uhr beginnt – Wagner verlangt also, dass die Oper den Mittelpunkt des Tages darstellt. Welcher Studiosus tut sich das schon an?

Wer die vorliegende Kritik nun liest, mag diese Zeilen ohne Weiteres als Empfehlung zum Fernbleiben von dieser Inszenierung im Besonderen und einer Wagner-Oper im Allgemeinen verstehen. Allerdings gilt – jedenfalls für Wagner im Allgemeinen – etwas gänzlich anderes. Ja, all‘ jenen, die eingeschüchtert von der Tragweite und Intensität den Opern Richard Wagners bisher fern geblieben sind, seien die Worte des britischen Musikwissenschaftlers Bernard Shaw entgegengehalten. Ja, all‘ jenen, die eingeschüchtert von der Tragweite und Intensität den Opern Richard Wagners bisher fern geblieben sind, seien die Worte des britischen Musikwissenschaftlers Bernard Shaw entgegengehalten. ,,Der unerfahrene, ungelernte Musikliebhaber [darf] sich Wagner furchtlos nähern, denn ein Mißverständnis zwischen dem Zuhörer und Wagner [ist] gar nicht möglich: die Musik des ,,Ring‘‘ ist durchaus einfach und unkompliziert.‘‘ Wie Recht Shaw hat! Also: nur Mut – egal ob bei den Opern des Rings oder anderswo im Wagner-Universum. Es lohnt sich.


Der ganze ,,Ring‘‘ wird noch einmal am 4., 5.,7. und 9. Januar 2022 aufgeführt. Mittlerweile können auch Karten für einzelne Opern des Rings erworben werden. Dabei lohnen sich auch durchaus die ,,niedrigeren‘‘ Platzkategorien – in der Deutschen Oper hört und sieht man nahezu überall gut. Neben dem ,,Ring‘‘ führt die Deutsche Oper Berlin in der laufenden Spielzeit auch ,,Die Meistersinger von Nürnberg‘‘, ,,Tannhäuser‘‘ und ,,Lohengrin‘‘ von Richard Wagner auf.

Foto: DAS RHEINGOLD, Regie: Stefan Herheim, Premiere: 12.6.2021, copyright: Bernd Uhlig