Das Sommer Special der diesjährigen Berlinale war ungewöhnlich, jedoch erfolgreich. Zwar konnten viel weniger Karten als sonst ergattert werden, die Filmauswahl war aber wie immer sehr divers, zwischen bizarr und bereichernd. Hier sind vier Perspektiven aus aus unserer Redaktion.

 

,,Ich bin dein Mensch”

Foto: Christine Fenzel

Der diesjährige Wettbewerbsfilm Ich bin dein Mensch von Maria Schrader spielt in der Zukunft in Berlin. Marie Eggert gewann für die Rolle der Hauptfigur Alma bereits einen silbernen Bären für die beste darstellerische Leistung. Alma ist Wissenschaftlerin und arbeitet am Pergamon Museum an Keilschriften. Als ausgewählte Person für ein Experiment bekommt sie einen humanoiden Roboter, gespielt von Dan Stevens, zugewiesen. Es wird getestet, ob die Humanoiden als Lebenspartner für Menschen funktionieren können. Alma weigert sich zunächst und stößt den Roboter von sich, dessen Algorithmus ist aber so auf sie zugeschnitten, dass sie sich doch annähern.

Das utopische oder dystopische Thema, je nach subjektiver Zukunftssicht, der menschgewordenen Künstlichen Intelligenz trifft auf den aktuellen Forschungsdiskurs über Roboter. Im ersten Drittel des Films nahbar dargestellt, verliert die Handlung im Verlauf an Spannung. Zu pathetisch und vorhersehbar ist es, dass Alma doch Gefühle für den Humanoiden Tom entwickelt. Während ihre wissenschaftliche Karriere einen Rückschlag erfährt, findet sie Halt in ihm. Nachdem sie ihm dann auch körperlich nah kommt, wirft die Wissenschaftlerin allzu philosophische Fragen auf, die eigentlich schon im Subtext des Filmes mitschwangen. Der Film endet offen und lässt vermeintlich Raum für Interpretation. Da jedoch das Handeln von Alma als auch des Roboters Tom absolut vorhersehbar sind, regt auch das Ende nicht zu großem Nachdenken an. Das spannende Thema der Koexistenz von KIs und Menschen wird leider langweilig umgesetzt. Das Einzige was nachhaltig beeindruckt, ist die enorm gute Schauspielleistung von Dan Stevens, der die Rolle des Humanoiden überzeugend spielt. Für einen Sonntagabend auf der Couch ist Ich bin dein Mensch trotzdem eine gute Wahl.

Jacqueline Kamp 

 

,,The Scary of Sixty-First”

Kinematics/ Carnegie Hill Entertainment

Eine an Vintage-Ästhetik erinnernde und von düsterer Musik begleitete Luftaufnahme Manhattans eröffnet den 81-minütigen Horrorthriller The Scary of Sixty-First, der in der experimentellen Sektion Encounters lief. Gleich zu Beginn drängt sich der Eindruck auf, dass hier etwas gehörig schief läuft. Zwei WG-Partnerinnen werden durch ein Apartment in der New Yorker Upper East Side geführt. Die mit ominösen Steinfresken überladene Außenfassade und der eigenwillige Innenausbau der Wohnung strahlen eine bedrohliche Atmosphäre aus, doch die günstige Miete überzeugt Addie und Noelle. Was wie ein klassischer Horrorfilm startet, wird recht schnell durch aktuelle Bezüge erweitert: Eine namenlos bleibende Fremde (gespielt von Dascha Nekrasova) treibt sich vor der Haustüre herum und eröffnet Noelle, dass es sich hier um eine ehemalige Wohnung des pädophilen Sexualstraftäters Jeffrey Epstein handele (eine reale Person) und sie dessen vermeintlichen Suizid untersuche. Die beiden gehen eine sexuelle Beziehung ein und versuchen im Drogenrausch „die Wahrheit“ über Epsteins Tod in einem New Yorker Gefängnis herauszufinden. Die Mitbewohnerin Addie dagegen, eine Esoterikerin und aspirierende Schauspielerin, wird besessen von einem jungen Opfer Epsteins und legt verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Sie entwickelt eine perverse Obsession mit Prince Andrew, dem (auch in Wirklichkeit) die Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens vorgeworfen wird, das ihm durch Epstein vermittelt wurde. Der Film endet in einem genretypischen Blutbad und einer Szene mit dem namenlos bleibenden Mädchen, die an den Film Eyes Wide Shut erinnert: Ein weißer Briefumschlag, darin eine Seite, auf der mit unpersönlich gedruckter Schrift steht: „Consider this a warning. We hope it will be sufficient for you to stop your investigations.“ 

Dasha Nekrasova, die Regisseurin, Drehbuchautorin (mit Co-Autorin Madeline Quinn) und im weiteren Verlauf des Films auch zunehmende Protagonistin hat mit diesem Horrorthriller die Verbrechen des einflussreichen Billionärs und Vergewaltigers verarbeitet, der in der US-amerikanischen High Society bestens vernetzt war. Dieses Regiedebut Nekrasovas stellt einen radikal anderen Umgang mit den Ereignissen dar. Gewollt überzogen, provokant und ins Absurde gehend löst es manchmal sogar ein hysterisches Lachen aus, das einem aber im Hals stecken bleibt. Der Film transportiert auf eigenwillige Art die traumatischen Folgen der systematischen Vergewaltigungen und den scheiternden Ausbruchsversuch aus einem erdrückenden Machtsystem. Im Verlauf steigert sich der Film regelrecht in einen hysterischen, von Besessenheit, Drogen und Sex geprägten Strudel hinein, der einen kaum kaltlassen kann. Einige Zuschauer*innen verließen bereits vorzeitig die Vorführung. Ein Kritikpunkt mag die Selbstinszenierung Nekrasovas sein, der mangelnde Sensibilität und Respektlosigkeit bei einem so schweren Thema vorgeworfen werden kann. Auch gelingt nicht immer der intendierte Schockeffekt. Trotzdem werden auf verstörende Weise die Grenzen zwischen Phantasie und realen Anspielungen verwischt. Es handelt es sich um einen intensiven und auf seltsame Art befreienden Film, der unsere von Verschwörungserzählungen geprägte Zeit wiederspiegelt. Das hat sich wohl auch die Jury gedacht, denn dieser Film erhielt bei der Berlinale einen Preis für den besten Erstlingsfilm von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF).

Pia Wieners

„Als wir Kinder waren“
Lilies Films
Nach „Portrait einer jungen Frau in Flammen“ (2019) kehrt Céline Sciamma mit dem kurzen Film „Als wir Kinder waren“ („Petite Maman“) zurück, in dem eine außergewöhnliche
Begegnung zwischen zwei Mädchen gleichen Alters im Mittelpunkt steht. Ein kleines Haus
mitten im Wald, in das die achtjährige Nelly und ihr Vater nach dem Tod der Großmutter
flüchten, wird zum Schauplatz der Begegnung zwischen Nelly und der kindlichen Version
ihrer eigenen Mutter, Marion. Die zwei Mädchen lernen sich kennen, bauen gemeinsam eine
Hütte, feiern Geburtstag und essen Crêpes.
Die Szenerie ist schlicht und natürlich, die Falben sind kühl und die Kameraführung diskret.
Durch die zeitliche Verschiebung wird die Geschichte einer kindlichen Freundschaft zum
Märchen und dieses Märchen zum Ausdruck einer Fantasie, die vielleicht in jedem von uns
schlummert; unsere eigenen Eltern als Kinder zu erleben.
„Als wir Kinder waren“ (Fr. „Petite Maman“) wurde bei der Berlinale als Wettbewerbsfilm
vorgestellt und kommt im November in die deutschen Kinos.
Rachel Geisler

 

 

,,From the Wild Sea”

Foto: Tanya Haurylchyk

Am 15. Juni fand im Freiluftkino Rehberge die Premiere des Dokumentarfilms From the Wild Sea statt. In Zeiten der immer schlimmer werdenden Klimakatastrophe gewährt dieser Film einen Einblick in das Ausmaß menschlichen Einflusses auf die Lebenswelt der Meere. Mit geduldigen Bildern wird der Alltag in Tierauffangstationen an den Küsten Irlands, Dänemarks und den Niederlanden dargestellt. Trauriger Höhepunkt ist ein 19 Meter langer gestrandeter Wal, für den jede Hilfe zu spät kommt. Immer wieder werden  dystopische Aufnahmen brechender Wellen gezeigt und alarmierende Radiovorhersagen machen auf die immer stärker werdenden Unwetter und Stürme aufmerksam. Den Retter*innen der Auffangstationen bleibt nur noch Symptombekämpfung, indem sie die verunglückten Tiere notdürftig versorgen, bevor sie wieder in die ‚Wildnis‘ entlassen werden. So endet der Film mit der Freilassung einiger Robben in ihren ursprünglichen Lebensraum. Eigentlich ein freudiges Ereignis, doch man hat das mulmige Gefühl, dass sie dort nicht mehr so richtig vor uns sicher sind.

Die Regisseurin Robin Petré, die an diesem Sommerabend im Rehbergepark anwesend war, schilderte die Intention hinter ihrer ersten längeren Dokumentation: Protagonist*innen seien genauso sehr Tiere, wie Menschen. Denn letztendlich sei die Grenze, die uns trenne, viel dünner, als häufig angenommen. Petré wies auf die Vieldeutigkeit des Begriffes Wild hin. Dieser bedeute hier nicht etwa, frei von menschlichen Einflüssen zu sein – im Gegenteil. Trotz langwieriger und sich thematisch wiederholender Sequenzen kann aus dem Film einiges mitgenommen werden. Tiere haben eben keine Sprache, die für spannende Dialoge oder dergleichen sorgen könnte. Doch genau dieses sich-nicht-ausdrücken-Können und dementsprechend auch nicht-verteidigen-Können kommt hier schmerzlich zum Vorschein. Eine Dokumentation über die Folgen menschlicher Zivilisation, die definitiv zum Reflektieren einlädt.

Pia Wieners