Nach ihrem Triptychon Certain Women erforscht Kelly Reichardt in ihrem neuen Film den einsetzenden Kapitalismus des amerikanischen Westens anhand einer Männerfreundschaft.

Es sind die 1820er Jahre und wir befinden uns an den Flussbetten des Columbia River im noch weitestgehend unerschlossenen Oregon. Das große Handelszentrum im südlich gelegenen Kalifornien heißt noch Saint Francisco und als Währung dient nahezu alles, dem sich ein intrinsischer Wert zuschreiben lässt: Rohstoffe mit entsprechendem Tauschwert, Muschelschalen und Münzen, deren Form und Prägung weniger wichtig ist als das ihnen zugrunde liegende (Edel-)Metall. Es ist eine Geschichte über den American Dream, einen anderen indes, als er uns heute geläufig ist.

Der Goldrausch lockt die Menschen an die Westküste. In den letzten Jahren sind es besonders die Biberpelze gewesen, die sich zu guten Preisen nach Europa und Asien verkaufen lassen. Einer dieser Pelzjäger ist Otis Cookie” Figowitz (John Magaro, The Big Short) aus dem fernen Maryland. Cookie ist ein versierter Koch und spürt als solcher die Verachtung seiner Begleiter, weil er lieber Pilze sammelt, als Tiere zu fangen.

Auf der Suche nach Pfifferlingen trifft er zwischen den Sträuchern auf einen nackten Mann (Orion Lee, Star Wars: Episode VIII – The Last Jedi). Ihn zunächst für einen ‘Indianer’ haltend, stellt sich dieser mit dem Namen King Lu vor und als ein chinesischer Immigrant heraus, der sich hier im Gestrüpp vor einer Bande Russen versteckt. Nach Amerika habe es ihn, wie so viele, wegen des Goldes verschlagen. 

Orion Lee und John Magaro FIRST COW. © Allyson Riggs / A24 Films

Als Cookie von King Lu in dessen Waldverschlag eingeladen wird, braucht es nicht mehr als eine Flasche geteilten Fusels, um die beiden endgültig zu befreunden. Dass die Liebe unterdessen nicht allein durch die Leber geht, sondern auch durch den Magen, zeigt sich, als Cookie für seinen Freund und sich aus einfachsten Zutaten Brot zubereitet. Schon nach dem ersten Biss wittert King Lu bereits ein Geschäft. Was sich mit nur ein paar mehr Zutaten so alles anstellen ließe.

Zur gleichen Zeit treibt auf einem Floß eine Lieferung für den britischen Handelsmann (Toby Jones, The Hunger Games), den Chief Factor, auf dem Columbia River entlang. In großen Unglauben versetzt es das gesamte Reservat, als sie da, aus der Ferne, eine einsame Kuh auf dem Floß erspähen. Wie es der Zufall will, vergeht nur wenig Zeit nach der Ankunft der Kuh, bis King Lu und Cookie ein neues Geschäft etablieren ― Siedegebäck.

Die Köstlichkeiten treffen einen Nerv, bald schon stehen die Leute Schlange, um eines der frittierten Teigbällchen zu kaufen. Als sich bald sogar der Chief Factor in den Reihen ihrer Kunden auftaucht, ist es beinahe anrührend, als dieser, fast wie gen Himmel, ausstößt, er schmecke ein Stück London”. Sofort möchte er sich die Talente der beiden Freunde zu Nutzen machen und bestellt weitere Backwaren, für die er andernfalls tage-, wenn nicht wochenlange Reisen auf sich nehmen müsste. Alles scheint gut zu sein, bis sich Veränderungen auf dem europäischen Markt ankündigen. Der Biber, so ein reisender Händler, sei nicht mehr ‘in’ in Paris, dem Pelzgeschäft kündigt sich ein Ablaufdatum an. Und dann gibt es da noch das Problem mit der Kuh, die aus unerfindlichen Gründen kaum Milch geben will…

Die Geschichte ist noch nicht hier.”

Mit der Geschichte um die erste Kuh im Oregon-Territorium stößt Reichardt nach Certain Women in deutlich konventionellere Gefilde vor. Die auf Jonathan Raymonds Roman The Half Life basierende Geschichte reflektiert eine sich im Aufbau befindliche Gesellschaft, die, wie es die Ankunft der Kuh symbolisiert, auf der Schwelle zu einer neuen Industriestufe steht. Wie für Reichardt typisch, ist die Binnengeschichte selbst von kleinstmöglicher Tragweite. Mit impressionistischen Farben und sanften Gitarrenklängen erzählt die in Miami wohnende Reichardt unaufgeregt von einer unwahrscheinlichen Freundschaft, von sich ausbreitendem Unternehmertum, von Kolonialismus und Eurozentrismus. All das zusammen liefe nur zu leicht Gefahr, in Beliebigkeit und seichte Gefilde abzudriften, doch, im Gegensatz zu den Bibern, gelingt es ihr mühelos, den gestellten Fallen auszuweichen. 

Zum einen ist die Szenerie hier nicht nur Tapete, man merkt jeder Einstellung ihre sorgfältige Komposition und die Akribie an, mit der man historische Akkuratheit verfolgt. Die Sets verströmen Lebhaftigkeit, die sich in Elfenbeintrinkbechern und perfekt-unperfekten Dame-Spielsteinen widerspiegelt.

Zum anderen bietet die heiter inszenierte Geschichte gerade in ihrem Kontrast als Narrativ auf kleinstmöglicher Ebene zu globalen Entwicklungen interessante Diskussionsansätze. Etwa, wenn der charmante King Lu seinem Freund Cookie zu verstehen gibt History isn’t here yet” – implizierend, dass die Geschichtsschreibung erst mit der Besiedlung und Kolonisierung durch Eurasien beginne; oder wie der von Toby Jones hervorragend porträtierte Chief Factor mit seinen anhaltenden Updates darüber, welche Nachfrage es gerade auf dem internationalen Markt gebe, das Abhängigkeitsverhältnis, insbesondere zu Europa, aufzeigt. 

Und so ist das dann auch von einer besonders bitteren Süße, für die die US-Amerikanerin bekannt ist. Mit Erleichterung lässt sich konstatieren, dass Reichardt mit First Cow erwartet stark abliefert, wenngleich sich die Berlinale-Verantwortlichen die Frage gefallen lassen müssen, warum ein Film, der bereits vor Monaten in New York Premiere feierte, hier für den Wettbewerb zugelassen wird.  

First Cow

Regisseurin: Kelly Reichardt

Filmlänge: 122min

Produktionsland: USA