Leopold Federmair lebt seit Jahren in Japan. Mit Schönheit und Schmerz legt er eine Sammlung von Prosa-Miniaturen vor. Poetische Beschreibungen von Natur und Menschen, die die Zeit stillstellen. 

Angesichts der Konkurrenz auf dem Markt der Aufmerksamkeiten verfällt die Buchbranche gerne in larmoyanten Zweckoptimismus. Schließlich sucht sie wie verbissen eine Antwort darauf, welchen Stellenwert und Zweck das Buch, die Literatur in der Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord) zukomme. Netflix, Disney+, Twitter, Tinder, Instagram: die Liste der Verführungen ist lang.

Wer könne da nach einem ausgelaugten Tag im Steinbruch der Prekarität noch Zeit und Muße finden, sich einem Buch zu widmen? Doch gerade darin, preisen die Apologeten des gedruckten Worty, liege das Geheimnis. In der Entschleunigung. In der hyperbeschleunigten Gesellschaft sei das Buch der Don Quichotte unter den Medien.

Trotzdem tut sich die Branche, aber auch viele Leser*innen bekanntlich schwer damit, wenn die Literatur das Marketingsprech der Entschleunigung und Achtsamkeit tatsächlich beim Wort nimmt. Abseits der Kontroversen um seine Texte zum Jugoslawienkrieg zeigten dass manche Reaktionen auf die Verleihung des Literaturnobelpreis 2019 an Peter Handke exemplarisch. Lieber lese sie die Rückseiten von Shampooflaschen als Peter Handke, twittert die Journalistin Katja Berlin süffisant.

Das verstockte, bedächtige, auch redundante in Handkes Prosa, wie die Literaturkritikerin und Bloggerin Sieglinde Geisel in ihrer 99-Page Review herausarbeitete, wird nicht selten als langweilig abgetan. Auch die Bestsellerlisten dominieren in der Regel Krimis oder Thriller, deren zentrales Element die Spannung, also auch die Dynamisierung ist. Es ist freilich eine offene Frage, ob die Figur des Literaten als behäbiger, abgewandter Pilzesammler ausgedient hat. Als Objekt ästhetischer Spiegelfechtereien ist dieser Autorentypus jedenfalls längst nicht mehr sakrosankt.

Die Verdichtung der Zeit

Einer der Handke gut kennt, ist der Österreicher Leopold Federmair. Schließlich hatte der 62-jährige Autor und Übersetzer (u.a. Michel Houellebecq, Ryu Murakami oder Juan Ramón Jiménez) 2012 das Buch Die Apfelbäume von Chaville. Annäherungen an Peter Handke veröffentlicht. Doch darin erschöpft sich die Nähe beider Autoren keineswegs.

Auch Federmairs Texten ist jene eigentümliche, aufs mikroskopischste fokussierende Akribie der Sprache eigen. Sie fällt aus der Linearität der Zeit heraus, indem sie sie bis ins Unendliche verdichtet. Was das Buch als Medium nur verheißt, schafft er mit literarischen Mitteln; die totale Entschleunigung bis zum vermeintlichen Stillstand. Und das ist beileibe kein Wellness, sondern im Gegenteil, es erfordert Anstrengung und Konzentration. 

Schönheit und Schmerz heißt also das neue Werk von Federmair. Erschienen ist es im kleinen und unabhängigen Berliner-Verlag PalmArtPress. Federmair versammelt dutzende, kleine Prosastücke; Divertimenti getauft. In der Musikwissenschaft bezeichnet dieser Begriff ein Instrumentalstück mit einem heiteren und unterhaltsamen Charakter, das auch tanzbar ist. Heiter ist in diesem Band jedoch wenig. Es sei denn, man verstünde heiter sein, als die Eigenschaft über den Dingen stehen zu können. Denn Federmair ist in erster Linie ein stiller, randständiger Beobachter.

Es wäre bereits übertrieben bloß Rudimente einer Handlung in Schönheit und Schmerz auszumachen. Die Orte an denen Federmair seine Beobachtungen macht und zu seinen Divertimenti komponiert, liegen indes (beinahe) ausschließlich in Japan. Dort lebt Federmair übrigens seit 17 Jahren, sant Frau und Kind in Hiroshima. Erschienen ist nicht zuletzt auch Federmairs Buch Tokyo Fragmente, das wie Schönheit und Schmerz auf einem Blog basiert. 

Feldermair schreibt Prosa-Haikus

Nun ist es selbstverständlich exotisierend den Japanern und der japanischen Literatur eine besondere Nähe zur Naturbeobachtung und -beschreibung, wie man sie von berühmten Autoren wie Bashou kennt, nachzusagen. Und im Gegensatz zu Marion Poschmanns Die Kieferninsel von 2016 ist bei Federmair die japanische Landschaft und Kultur nur unterschwelliger, kein zentraler Topos. Gleichwohl gibt es Parallelen: statt von Divertimenti könnte man Federmairs Miniaturen auch als Prosa-Haikus bezeichnen.

Nur mit Laptop und Schreibheft bepackt streift Federmair abseits der Metropolen. Entlang abgelegener Forst-und Feldwege erkundet er die Peripherie, berichtet von mäßig besuchten Konbinis (japanische 24-Stunden Märkte) und unbesehenen Schnellrestaurants. Dort sitzt das lyrische Ich, sieht und schreibt. Weiter nichts. Nahe eines Shinto-Schreins sitzt es auf einer Bank und beobachtet zwei Ameisen sekundengenau, wie sie einen toten Schmetterling in ihre “dunkle Wohn-und Werkstätte” abtransportieren.

Federmair ist ein exzellenter Beschreiber von Pflanzen und Tieren, ihren Schatten, Sprüngen und Launen. Und wie beim Haiku ist das Beschreiben der Natur eingewoben in die Reflexion um die Verträglichkeit – des Werdens und Vergehens. „Und jetzt: In der Luft vor den Baumblättern flattert, wiedergeboren, ein weißlicher Falter.” Das erinnert stark an ein Haiku des bereits erwähnten Bashô: „Erwach, erwach doch/ Und werde mein Gefährte/ Verträumter Falter.” 

Aufgehen im Nichts

Das ist kein unpolitisches Schreiben. Federmair gibt der Natur ihre Subjektivität und Dignität zurück, abseits ihrer üblichen Verwertung. Der industriellen Moderne begegnet er mit zartem Unbehagen und Melancholie. Weder Optimist noch Pessimist registriert der Erzähler was sich dem Fortschrittsparadigma nicht fügen kann oder will. „Das Nudelrestaurant unter der Autobahnbrücke sieht aus wie eine schäbige Schachtel, die ein Fahrer in die Tiefe geworfen hat.” 

Das führt leider auch zu manchen metaphysischen Übertreibungen, wenn er zum Beispiel zwei aneinandergedrängte PKWs auf einem Parkplatz so beschreibt: „Als wollten sie sich gegen die umfassende Leere schützen: Leere des Platzes, des Geländes, der Hochebene, der Region, des Landes, des Kontinents, des Universums.”

Unter dem Divertimenti Monaden der Leichtindustrie beschreibt Federmair die heutigen Großstadtmenschen als „Roboterhafte Menschenwesen in industriell fabrizierten Wohngebilden […]. Industrieprodukte in Industrieprodukten.” Diese kulturkritische Klage ist freilich nicht besonders originell. Federmair ist dort am stärksten, wo er sich wie ein Flaneur der Natur hingibt.

„Ein kleiner, spitzer Haufen von rotem Pulver am Fuß eines Baums. Der Pilz, der gestern früh aus der Lehmbank unter dem steinernen Wassertrog vor der Gotteshütte herausgekommen war, ist jetzt verdörrt, auf ein unauffälliges, farbloses, bodenfarbenes Ding zusammengeschrumpft. Eintagspilz, gleichgültiger als die Nicht-Existenz. Ihn zum Vorbild nehmen.”

Leser brauchen Geduld und Ausdauer

Es ist dieser Blick für das Detail, auf das Andere, das auch immer in Beziehung zum Eigenen steht, der Schönheit und Schmerz zu jener Poesie führt, die bereits in der Dialektik des Titels anklingt. Ansonsten passiert weiter nicht viel. Beobachtung reiht sich an Beobachtung, Erinnerung an Reflexion, bedächtig wie ein wandernder Schatten, zerrinnt die Zeit. Ist das jetzt langweilig?

Es hängt von der Erwartung und dem Modus des Lesens ab. Kann man einen Gedichtband von der ersten bis zur letzten Seite in einem Rutsch lesen? Vermutlich nicht. Und so ist es auch bei Schönheit und Schmerz. Zehn bis zwanzig Seiten am Tag können genügen. Federmairs Prosa ist als Poesie zu begreifen, mal eindringlich, mal überfordernd, zugleich lebensnah und weltfremd. Es braucht die Zeit um selbst innezuhalten, nachzudenken und selbst zu phantasieren. 

„Schreiber und Angler brauchen Ausdauer, Geduld, sonst machen sie keinen Fang, oder müssen sich mit Kleinzeug begnügen, das besser in der undurchsichtigen Tiefe geblieben wäre.” Das gilt auch für Leser.


Leopold Federmair: Schönheit und Schmerz
PalmArtPress 2019
300 Seiten, gebunden, 24,00€