Seit 2000 unterstützt der Verein EXIT in Deutschland Menschen bei ihrem Ausstieg aus der rechten Szene. Fabian Wichmann von EXIT Berlin hat mit der UnAuf über den Ausstieg nicht nur aus einer Gruppe, sondern einer ganzen Ideologie gesprochen.

UnAuf: Wie läuft das ab, wenn jemand zu Ihnen kommt und um Hilfe beim Ausstieg bittet?

Fabian Wichmann: In der Regel wenden sich die Leute an uns, die eine mehr oder minder ausgeprägte Motivation haben, sich in der rechtsextremen Szene befinden und mit dieser Motivation diese verlassen wollen. Dann entwickeln wir mit denen einen Plan, wie man diesen Schritt vollziehen kann. Wie man mit den ehemaligen Kamerad*innen kommuniziert, welche Informationen oder Erzählung man den Kamerad*innen vermittelt im Ausstieg.

Wir klären Fragen von Sicherheit: Ist da eine Gefährdung, wie ist die zu bewerten, wie kann man die kompensieren, wie verhält man sich im Zweifelsfall, wenn man wieder auf Kamerad*innen trifft. Bis hin zu praktischer Hilfe, um die Sicherheit zu gewährleisten. Begleiten also Umzüge, Namensänderungen und auch Identitätswechsel. Das ist immer sehr fallabhängig. Das ist ein individueller Prozess.

Gibt es einen bestimmten Punkt an dem viele Aussteiger*innen merken, dass sie jetzt aussteigen wollen?

In der Regel ist es so, dass es einen längeren Vorlauf gibt an Zweifeln und Fragen. Aber der Druck, der Zwang, die Notwendigkeit für die Person etwas zu verändern ist noch nicht da. In vielen Fällen sehen wir, dass die Zweifel lange beiseite geschoben werden, weil man doch noch zu verwoben und vielleicht finanziell abhängig war und eine konkrete Veränderung einen hohen Preis hätte. Man würde das ganze soziale Umfeld verlassen und es stellt sich das Gefühl ein: Man hat danach nichts mehr.

Das funktioniert dann so lange, bis der Druck zu stark wird. Da kann es dann ein Ereignis geben, andere beschreiben Schlüsselmomente. Die reichen dann von situativen Irritationen, Erwartungshaltungen die nicht erfüllt werden oder Konflikten die sich innerhalb der Struktur entwickeln. Gewalt kann auch so eine Erfahrung sein, entweder an sich selber oder an Fremden.

Was passiert dann?

Nach so einer Erfahrung setzt dann eine Art zweite Stufe der Reflexion ein, wo sich gefragt wird: Ist es das wert? Wo bin ich eigentlich jetzt hier in meinem Leben? Was hab ich erreicht und was wollte ich erreichen? Kann ich es so überhaupt erreichen? Sind die Widersprüche auflösbar für mich oder kann ich die weiter hinnehmen?

Viele Aussteiger*innen gehen sehr offen mit ihrer Neonazi-Vergangenheit um. Wie verhält sich das beispielsweise bei der Arbeitssuche?

Da wird zunächst im Ausstiegsprozess entschieden, inwiefern eine Öffentlichkeit notwendig ist. Bei Personen, die während ihrer aktiven Zeit als Neonazi schon sehr exponiert waren, sehen wir eine Verantwortung sich zu dieser Vergangenheit zu äußern und eine klare Distanz zu entwickeln. Einerseits für die Zielgruppe, andererseits auch um zu zeigen „bei mir ist etwas passiert“.

Es ist nicht immer sinnvoll allen alle Information zur Verfügung zu stellen. Gerade wenn man an den Bereich Arbeitsmarkt denkt ist es manchmal notwendig, aber selbst dann muss man gucken, wie viele Informationen und wie tief ist die Information. Einerseits um den Arbeitgebenden nicht zu verunsichern und andererseits auch die Privatsphäre der Person zu bewahren.

Und wie hält es sich mit der gesellschaftlichen Akzeptanz?

Es gibt die, die sagen, ist ja spannend, ich würde der Person auch eine Möglichkeit geben und macht das auch. Dann hat man eine Gruppe die sagt, ist ja schön und ich nehm es ihm oder ihr auch ab, aber ich muss die Person trotzdem nicht involvieren und ich möchte damit nichts zu tun haben. Und dann gibt es eine Gruppe, die das komplett ablehnt und sagt, wenn jemand ein Neonazi war in der Vergangenheit, dann wird er oder sie das auch nicht verändern können. Weil es für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist, dass jemand seine politische Einstellung so fundamental ändert, weil es auch Zweifel bei sich selber erzeugt.

Wenn eine Person X 15 Jahre Neonazi war und dann aussteigt und das als Fehler bewertet und eine neue Sortierung seiner Weltanschauung vornimmt, dann macht das auch was mit dem Gegenüber. Weil auch da die Frage ist: Wie konsistent und wie stabil sind Weltanschauungen und politische Verortungen.

Welche dieser Gruppen überwiegt?

Wahrscheinlich eher die mittlere Gruppe.

Bringt der Ausstieg auch Gefahren mit sich? 

Der Ausstieg wird innerhalb der Szene nicht gern gesehen. Man kann aber nicht so pauschal sagen, dass jeder, der sich in der rechtsextremen Szene bewegt hat, dann auch gefährdet ist. Das ist auch sehr stark abhängig von Faktoren wie der Dauer innerhalb der Szene, der Gruppe, dem Weg des Ausstiegs und wie er kommunikativ gestaltet wird. Es hängt davon ab, inwiefern die Person noch Gefährder-Wissen hat über die Gruppe und ob da noch persönliche Verflechtungen sind, die Rachepläne befördern könnten.

Wird ihre Arbeit erschwert durch einzelne Personen bei der AfD? Und wird vielleicht auch die Rückkehr für bereits Ausgestiegene attraktiver durch Politiker*innen, die sich Nazi-Sprech bedienen?

Mit den Fällen, mit denen wir zu tun haben, für diesen militanten organisierten Bereich, ist die AfD als solche im Ausstiegsprozess nicht relevant. Die Leute, mit denen wir zu tun haben, würden die AfD schon als Systempartei, „wie alle anderen“, beschreiben. Die wahre nationale Alternative wären für sie Kleinparteien oder sie selber als Gruppe.

Halten Sie Verbote einzelner Gruppen sinnvoll oder entsteht dadurch wieder ein Tabu, das reizvoll sein kann?

Es gibt diese liberale Haltung, wie in den USA, mit sehr sehr wenigen Verboten, da sagt man, die Verbote schaffen erst ein Interesse. Wenn man sich dann aber die USA anschaut, wo das Hakenkreuz und gewisse Parolen nicht verboten sind, müsste da doch der Reiz weg sein. Ist aber nicht so. Man kann jetzt auch nicht per se Deutschland mit der USA vergleichen, das zeigt aber trotzdem: Nur das Verbot macht noch nicht die Faszination.

Klar, ein Verbot wird nicht immer die eigentliche Ursache beseitigen, aber gerade im Bereich organisierter Kriminalität, terroristischer und krimineller Vereinigungen haben Verbote ihre Berechtigung, weil sie Strukturen, die dort bestehen akut auflösen und behindern und auch die Neuentwicklung behindern. Damit wird ein Stück weit die Gefahr erstmal gemindert, aber in der Regel kommen dann veränderte Formen wieder. Man kann also nicht davon ausgehen, dass es nach dem Verbot gelöst ist.

Manche Verbote sind auch im Sinne des Opferschutzes notwendig oder um eine politische Handhabe zu haben. Ich bin also nicht gegen Verbote, aber die können nicht als Allheilmittel verstanden werden.

Wie erreichen Sie die Leute überhaupt? 

Wir arbeiten auf Freiwilligkeit, die Leute müssen in irgendeiner Art von dem Angebot wissen und einen Impuls haben sich bei uns zu melden. Wir verfolgen daher mehrere Linien. Eine wäre die Öffentlichkeitsarbeit, auch mit Erzählungen von Aussteiger*innen, um auch eine Anschlussfähigkeit zu entwickeln. Zum anderen machen wir Kampagnen. 

2011 haben wir T-Shirts an eine Rechtsrock-Konzert in Thüringen verschickt, als Spende von jemandem, der der Szene selbst nahe steht, aber nicht aktiv werden kann. Die waren mit Fahnen und Schädeln auf Aufschriften wie „national und frei“ bedruckt und wurden dann an die ersten 250 Leute verteilt. Nach dem Waschen hat sich dann dieser Oberdruck gelöst und unten drunter stand dann: „Was dein T-Shirt kann, kannst du auch. Wir helfen dir dich vom Rechtsextremismus zu lösen. EXIT Deutschland“.

Natürlich steigt jetzt niemand aus, weil er vor der Waschmaschine die Erleuchtung hatte. Die Idee ist aber, dass man auf der einen Seite eine Diskussion innerhalb der Zielgruppe erzeugt hat und darüber hinaus in der Gesellschaft. So, dass dann vielleicht zwei, drei Jahre später eine Person, die zweifelt, an EXIT denkt. Wir versuchen Öffentlichkeit herzustellen. Wie auch über die Geschichte in Wunsiedel mit dem unfreiwilligen Spendenmarsch. 

Anm. d. Red: 2015 wurde in Wunsiedel, einem Dorf in dem jährlich Neonazis demonstrierten, eine Spendenaktion gestartet. Kleinunternehmer spendeten 10 Euro an anti-rechtsextreme Organisationen für jeden Meter, den die Neonazis gingen. Dadurch wurden die Demonstrierenden vor die Wahl gestellt: Entweder sie laufen weiter und spenden oder aber sie gehen nach Hause. Aus der Aktion entstand die Kampagne „RechtsgegenRechts“, die bisher über 48.000 Euro (Stand 1. August 2020) gesammelt hat.

… also ein bisschen die Guerillataktik

Genau. Man wird dann zwar nicht als sympathisch wahrgenommen, aber es reicht ja aus, dass man erstmal wahrgenommen wird, um dann im Zweifelsfall ansprechbar zu sein. Das schafft natürlich eine Provokation und Abwehrreflexe. Da werden dann Geschichten erzählt, davon dass wir die Leute rauskaufen würden und von Gehirnwäsche. Aber wir sind dann immer noch Diskussionsbestandteil und das ist uns der wichtigere Aspekt.

Gab es schon mal heftigere Reaktionen? Im Sinne von Drohungen?

Ja, ab und zu mal, dass Drohungen kommen per Email oder per Anruf. Bei Aussteigern haben wir mal Manipulation am Fahrzeug oder Zusendungen von toten Tieren – alles mögliche, was man sich so ausdenkt um jemanden einzuschüchtern. Wir steigen aber nicht auf diese aggressiv-feindliche Kommunikation ein, sondern versuchen die mit Kampagnen zu brechen und zu konterkarieren.


Diese Interviewreihe ist der erste Teil des Inlandprojektes 2020 der UnAufgefordert, das sich mit dem Thema Rechtsextremismus auseinandersetzt. Die beiden anderen Teile bestehen aus einer Heftveröffentlichung im Dezember sowie einer Online-Podiumsdiskussion am 7.12 mit dem Titel „World Wide Rechts – Wie Rechte in sozialen Netzwerken agieren“. Weitere Infos dazu findet Ihr hier.

Dieses Projekt wird gefördert durch die Humboldt-Universitäts-Gesellschaft.

Illustration: Jens Jeworutzki (Anm. d. Red.)